Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.bot ihm eine deutsche Universität überhaupt keine Gelegenheit. Wollte er eine Uni¬ Was die allgemeine Bildung betrifft, so soll jeder Wundarzt seine Mutter¬ bot ihm eine deutsche Universität überhaupt keine Gelegenheit. Wollte er eine Uni¬ Was die allgemeine Bildung betrifft, so soll jeder Wundarzt seine Mutter¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0170" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/138401"/> <p xml:id="ID_478" prev="#ID_477"> bot ihm eine deutsche Universität überhaupt keine Gelegenheit. Wollte er eine Uni¬<lb/> versität besuchen, dann wandte er sich anders wohin, womöglich nach Padua,<lb/> denn dort wurden von berühmten Lehrern Operationskurse an Leichen „vor¬<lb/> nehmlich den Teutschen zu lieb" abgehalten. Ein zweiter Weg bot sich, insofern<lb/> als hier und da gelehrte Medici ganz unabhängig von den Universitäten<lb/> theoretischen wie auch bis zum gewissen Grade praktischen Unterricht ertheilten<lb/> und die jungen Wundärzte mit zu solchen Kranken nahmen, „bei welchen was<lb/> Absonderliches und zu vermerken wohl werthes zu observiren" war. Es galt<lb/> daher für eine große Errungenschaft, wenn es einem Barbiergesellen gelang,<lb/> sich an einen vornehmen Mediens anzuschließen. Nächstdem ging der Wund¬<lb/> arzt auf die Wanderschaft und besuchte, wenn es irgend thunlich war, Italien,<lb/> Frankreich oder Holland, wo er sich bei berühmten Meistern der Wundarznei<lb/> kürzere oder längere Zeit aufhielt. Am liebsten wählte er volkreiche Städte,<lb/> welche große Spitäler hatten und ein möglichst reichhaltiges Material lieferten.<lb/> Ein Chirurg, der Mitglied des LollkAiuin ellirui-Alcuin in Kopenhagen werden<lb/> wollte, mußte vorher mindestens 4 Jahre hindurch auf Reisen gewesen sein.<lb/> Wer sich zum Specialisten ausbilden oder einzelne Fächer besonders cultiviren<lb/> wollte, der wurde Schiller eines Oculisten, Staarstechers, Stein- oder Bruch¬<lb/> schneiders. Die Frage, wie ein Wundarzt sein solle, beantworten die Autoren<lb/> im Sinne des Hippokrates: neben der geistigen muß auch die körperliche<lb/> Befähigung vorhanden, der Wundarzt muß kräftig und womöglich wohlgestaltet<lb/> sein; denn körperliche Schönheit gewinnt — nach Theophrast's Ausdruck — die<lb/> Gunst der Menschen gleichsam durch einen stillschweigenden Betrug.</p><lb/> <p xml:id="ID_479" next="#ID_480"> Was die allgemeine Bildung betrifft, so soll jeder Wundarzt seine Mutter¬<lb/> sprache fertig schreiben und lesen können. Griechische Autoren im Urtext zu<lb/> lesen, ist nicht erforderlich; wohl aber muß er vom Griechischen so viel wissen,<lb/> daß er die Bedeutung der Fremdwörter kennt, was außerdem dazu dienen<lb/> würde, „sich ein Ausehen nach größerer hinter ihm steckender Gelehrsamkeit zu<lb/> setzen". Jedem bessern Wundarzt galt die Kenntniß der lateinischen Sprache für un¬<lb/> erläßlich, die der italienischen, französischen oder englischen für wünschenswerth.<lb/> Unter den Hilfswissenschaften stand obenan die Anatomie; schade nur, daß<lb/> es mit ihr in Deutschland sehr schlecht bestellt war. Alle Schriftsteller fordern<lb/> daher immer wieder zum Studium der Anatomie auf, und Hildanus hat ein<lb/> Buch geschrieben, lediglich in der Absicht, „damit er denen jungen Barbierer-<lb/> Gesellen und Lehrjungen möchte Anlaß geben, die müßige Zeit lieber auf dieses<lb/> hochnothwendige Studium als auf einiges andere zu verwenden". Einen<lb/> systematischen Unterricht in der Anatomie gab es vorerst nicht und auch später<lb/> nur an wenigen Orten. Der Wundarzt konnte dieselbe nur ans Büchern und<lb/> durch Sectionen lernen. Die am meisten benutzten anatomischen Werke waren</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0170]
bot ihm eine deutsche Universität überhaupt keine Gelegenheit. Wollte er eine Uni¬
versität besuchen, dann wandte er sich anders wohin, womöglich nach Padua,
denn dort wurden von berühmten Lehrern Operationskurse an Leichen „vor¬
nehmlich den Teutschen zu lieb" abgehalten. Ein zweiter Weg bot sich, insofern
als hier und da gelehrte Medici ganz unabhängig von den Universitäten
theoretischen wie auch bis zum gewissen Grade praktischen Unterricht ertheilten
und die jungen Wundärzte mit zu solchen Kranken nahmen, „bei welchen was
Absonderliches und zu vermerken wohl werthes zu observiren" war. Es galt
daher für eine große Errungenschaft, wenn es einem Barbiergesellen gelang,
sich an einen vornehmen Mediens anzuschließen. Nächstdem ging der Wund¬
arzt auf die Wanderschaft und besuchte, wenn es irgend thunlich war, Italien,
Frankreich oder Holland, wo er sich bei berühmten Meistern der Wundarznei
kürzere oder längere Zeit aufhielt. Am liebsten wählte er volkreiche Städte,
welche große Spitäler hatten und ein möglichst reichhaltiges Material lieferten.
Ein Chirurg, der Mitglied des LollkAiuin ellirui-Alcuin in Kopenhagen werden
wollte, mußte vorher mindestens 4 Jahre hindurch auf Reisen gewesen sein.
Wer sich zum Specialisten ausbilden oder einzelne Fächer besonders cultiviren
wollte, der wurde Schiller eines Oculisten, Staarstechers, Stein- oder Bruch¬
schneiders. Die Frage, wie ein Wundarzt sein solle, beantworten die Autoren
im Sinne des Hippokrates: neben der geistigen muß auch die körperliche
Befähigung vorhanden, der Wundarzt muß kräftig und womöglich wohlgestaltet
sein; denn körperliche Schönheit gewinnt — nach Theophrast's Ausdruck — die
Gunst der Menschen gleichsam durch einen stillschweigenden Betrug.
Was die allgemeine Bildung betrifft, so soll jeder Wundarzt seine Mutter¬
sprache fertig schreiben und lesen können. Griechische Autoren im Urtext zu
lesen, ist nicht erforderlich; wohl aber muß er vom Griechischen so viel wissen,
daß er die Bedeutung der Fremdwörter kennt, was außerdem dazu dienen
würde, „sich ein Ausehen nach größerer hinter ihm steckender Gelehrsamkeit zu
setzen". Jedem bessern Wundarzt galt die Kenntniß der lateinischen Sprache für un¬
erläßlich, die der italienischen, französischen oder englischen für wünschenswerth.
Unter den Hilfswissenschaften stand obenan die Anatomie; schade nur, daß
es mit ihr in Deutschland sehr schlecht bestellt war. Alle Schriftsteller fordern
daher immer wieder zum Studium der Anatomie auf, und Hildanus hat ein
Buch geschrieben, lediglich in der Absicht, „damit er denen jungen Barbierer-
Gesellen und Lehrjungen möchte Anlaß geben, die müßige Zeit lieber auf dieses
hochnothwendige Studium als auf einiges andere zu verwenden". Einen
systematischen Unterricht in der Anatomie gab es vorerst nicht und auch später
nur an wenigen Orten. Der Wundarzt konnte dieselbe nur ans Büchern und
durch Sectionen lernen. Die am meisten benutzten anatomischen Werke waren
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