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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Der deutsche Wundarzt des 16. und 17. Jahrhunderts.

Wenngleich die Zustände des 16. und 17. Jahrhunderts weit von denen
unserer Tage verschieden sind, so fehlt es doch nicht an ähnlichen Zügen zwi¬
schen beiden, und wir werden daher in nachfolgender Darstellung oft genug ein
Spiegelbild heutiger Verhältnisse erkennen. Das Personal, welches am Schlüsse
des Mittelalters die Chirurgie ausübte, war ein bunt zusammengesetztes und
sehr verschiedenwerthiges. Die eigentlichen Wundärzte waren die Barbierer; sie
erlernten ihre Künste innerhalb dreier Jahre, die sie nach zurückgelegter Schulzeit
bei einem Meister in der Lehre zubrachten. Sie mußten Haar schneiden, Bart
Putzen, aufsetzen, Parfümiren, pudern, etwas Ader lassen und zur Noth eine
Fleischwunde heilen; von der eigentlichen Wnndarznei wußten sie so viel wie
die "Balgtreter vom Orgelspiel". Zunächst kam alles auf die Wahl des Meisters
an; derselbe mußte tüchtig sein und es mit seinen Schülern ehrlich meinen.
Oft genug verstanden die Meister selbst nichts oder nahmen die Jungen zu
keiner Operation mit, unterwiesen sie nicht in den nöthigen Handgriffen oder
ließen sie gehen, wie sie gehen wollten. Andere wieder pflegten ihre Künste
geheim zu halten und lieferten so das Widerspiel mancher heutigen Fach¬
genossen, die mit rührender Fürsorge gern durch eine "vorläufige Mittheilung"
die staunende Welt von einer neuen Entdeckung möglichst bald in Kenntniß
setzen.

Für diejenigen, welche mit dem niedrigsten Maaße des Wissens nicht
zufrieden waren, begann die eigentlich chirurgische Ausbildung erst nach beendeter
Lehrzeit. Es standen zur Weiterentwickelung viele Wege zu Gebote; welchen
von diesem der junge Wundarzt (eiw) einschlug, das hing vorzugsweise ab
von dem Gelde, den Vorkenntnissen und Fähigkeiten, die der Betreffende hatte
oder nicht hatte. Er konnte an einer Universität theoretische Kollegia über
Chirurgie hören -- falls solche gelesen wurden. Zu praktischer Ausbildung


Grenzboten III. 1877. 21
Der deutsche Wundarzt des 16. und 17. Jahrhunderts.

Wenngleich die Zustände des 16. und 17. Jahrhunderts weit von denen
unserer Tage verschieden sind, so fehlt es doch nicht an ähnlichen Zügen zwi¬
schen beiden, und wir werden daher in nachfolgender Darstellung oft genug ein
Spiegelbild heutiger Verhältnisse erkennen. Das Personal, welches am Schlüsse
des Mittelalters die Chirurgie ausübte, war ein bunt zusammengesetztes und
sehr verschiedenwerthiges. Die eigentlichen Wundärzte waren die Barbierer; sie
erlernten ihre Künste innerhalb dreier Jahre, die sie nach zurückgelegter Schulzeit
bei einem Meister in der Lehre zubrachten. Sie mußten Haar schneiden, Bart
Putzen, aufsetzen, Parfümiren, pudern, etwas Ader lassen und zur Noth eine
Fleischwunde heilen; von der eigentlichen Wnndarznei wußten sie so viel wie
die „Balgtreter vom Orgelspiel". Zunächst kam alles auf die Wahl des Meisters
an; derselbe mußte tüchtig sein und es mit seinen Schülern ehrlich meinen.
Oft genug verstanden die Meister selbst nichts oder nahmen die Jungen zu
keiner Operation mit, unterwiesen sie nicht in den nöthigen Handgriffen oder
ließen sie gehen, wie sie gehen wollten. Andere wieder pflegten ihre Künste
geheim zu halten und lieferten so das Widerspiel mancher heutigen Fach¬
genossen, die mit rührender Fürsorge gern durch eine „vorläufige Mittheilung"
die staunende Welt von einer neuen Entdeckung möglichst bald in Kenntniß
setzen.

Für diejenigen, welche mit dem niedrigsten Maaße des Wissens nicht
zufrieden waren, begann die eigentlich chirurgische Ausbildung erst nach beendeter
Lehrzeit. Es standen zur Weiterentwickelung viele Wege zu Gebote; welchen
von diesem der junge Wundarzt (eiw) einschlug, das hing vorzugsweise ab
von dem Gelde, den Vorkenntnissen und Fähigkeiten, die der Betreffende hatte
oder nicht hatte. Er konnte an einer Universität theoretische Kollegia über
Chirurgie hören — falls solche gelesen wurden. Zu praktischer Ausbildung


Grenzboten III. 1877. 21
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[0169] Der deutsche Wundarzt des 16. und 17. Jahrhunderts. Wenngleich die Zustände des 16. und 17. Jahrhunderts weit von denen unserer Tage verschieden sind, so fehlt es doch nicht an ähnlichen Zügen zwi¬ schen beiden, und wir werden daher in nachfolgender Darstellung oft genug ein Spiegelbild heutiger Verhältnisse erkennen. Das Personal, welches am Schlüsse des Mittelalters die Chirurgie ausübte, war ein bunt zusammengesetztes und sehr verschiedenwerthiges. Die eigentlichen Wundärzte waren die Barbierer; sie erlernten ihre Künste innerhalb dreier Jahre, die sie nach zurückgelegter Schulzeit bei einem Meister in der Lehre zubrachten. Sie mußten Haar schneiden, Bart Putzen, aufsetzen, Parfümiren, pudern, etwas Ader lassen und zur Noth eine Fleischwunde heilen; von der eigentlichen Wnndarznei wußten sie so viel wie die „Balgtreter vom Orgelspiel". Zunächst kam alles auf die Wahl des Meisters an; derselbe mußte tüchtig sein und es mit seinen Schülern ehrlich meinen. Oft genug verstanden die Meister selbst nichts oder nahmen die Jungen zu keiner Operation mit, unterwiesen sie nicht in den nöthigen Handgriffen oder ließen sie gehen, wie sie gehen wollten. Andere wieder pflegten ihre Künste geheim zu halten und lieferten so das Widerspiel mancher heutigen Fach¬ genossen, die mit rührender Fürsorge gern durch eine „vorläufige Mittheilung" die staunende Welt von einer neuen Entdeckung möglichst bald in Kenntniß setzen. Für diejenigen, welche mit dem niedrigsten Maaße des Wissens nicht zufrieden waren, begann die eigentlich chirurgische Ausbildung erst nach beendeter Lehrzeit. Es standen zur Weiterentwickelung viele Wege zu Gebote; welchen von diesem der junge Wundarzt (eiw) einschlug, das hing vorzugsweise ab von dem Gelde, den Vorkenntnissen und Fähigkeiten, die der Betreffende hatte oder nicht hatte. Er konnte an einer Universität theoretische Kollegia über Chirurgie hören — falls solche gelesen wurden. Zu praktischer Ausbildung Grenzboten III. 1877. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/169>, abgerufen am 28.09.2024.