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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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völlig abgewandt. Das lag in der einseitig idealistischen Richtung, welche da¬
mals die Wissenschaft beherrschte. Für die empirischen Disziplinen gab es nur
wenige Lehrstühle. Die Naturwissenschaften wurden von den Professoren der
Medizin und Philosophie gelehrt. Maßgebend war auch hier Aristoteles. Es
wurden wohl von den mathematischen Professoren Strauß und Linemann
Versuche gemacht, die Allgewalt desselben zu brechen, aber schwerlich mit Er¬
folg. Diese mangelhafte Bearbeitung des naturwissenschaftlichen Gebietes hatte
zur Folge, daß abergläubische Vorstellungen auch in den Kreisen der
Gebildetsten leicht Eingang fanden. In allen unglücklichen Ereignissen sah
man die Hand böser Geister. Der Professor der Mathematik Strauß ver¬
theidigte die Wirklichkeit der Zauberei und den Glauben an die Verwandlung
von Menschen in Wärwölfe. Der Doktor der Theologie Derschow fand den
Ursprung der Epidemien in den Einwirkungen der Himmelskörper und leitete
die Theuerung, die in den Jahren 1622 und 1623 herrschte, von der Thätig¬
keit böser Geister, Alphen genannt, ab, die den Bauern das Getreide ent¬
wendeten. Der Professor der Theologie Werner erkannte in Sturm und Ge¬
witter das Walten von Hexen.

Wir sehen, auch Mathematiker wie Strauß, die sonst das Recht der Er¬
fahrung verfochten, die Kepler's und Copernikus' Entdeckungen vertraten, konnten
sich doch völlig von dem Bann abergläubischer Vorstellungen, welcher die Zeit
gefangen hielt, nicht frei machen.

Auch auf dem Gebiet der Staatswissenschaften galt Aristoteles als unfehl¬
barer Meister, doch fehlte es nicht an Versuchen, politische Erfahrungslehren
zu der ihnen gebührenden Geltung zu bringen. So verfaßte der Bürgermeister
am Kneiphof, Andreas Holländer, einen "Spiegel guter und böser Regenten",
der aus dem Leben der israelitischen Könige Regeln politischer Weisheit ent¬
nahm, sie durch die Lehren älterer und neuerer Schriftsteller erläuterte und
auf die Gegenwart bezog. Viel Aufsehen erregte die Schrift des Kanzlers
Christoph von Rappe, der unter dem Pseudonym l^eiüeus g, I^Ms hervor¬
trat: "Homo Mtieus," die in ironischem Tone die Grundsätze der
Machiavellistischen Politik darstellte und auf die Jesuiten als die vorzüglichsten
Lehrer derselben hinwies. Doch wurde hier und da die Ironie nicht gemerkt, und
Gegenschriften bekämpften den Schüler Machiavellis. Rom verstand, wie es
gemeint war, und setzte das Buch auf den Index.

Auf dem historischen Gebiet wurde wenig geleistet, erst seit dem Jahre
1618 bestand ein Lehrstuhl der Geschichte an der Universität. Ein eigenthüm¬
liches Zusammentreffen, daß er zugleich mit dem Ausbruch des dreißigjährigen
Krieges errichtet wurde, als solle für die Aufzeichnung seiner thränenreichen Ge¬
schicke Sorge getragen werden. Aber freilich Objekt des historischen Vortrags


völlig abgewandt. Das lag in der einseitig idealistischen Richtung, welche da¬
mals die Wissenschaft beherrschte. Für die empirischen Disziplinen gab es nur
wenige Lehrstühle. Die Naturwissenschaften wurden von den Professoren der
Medizin und Philosophie gelehrt. Maßgebend war auch hier Aristoteles. Es
wurden wohl von den mathematischen Professoren Strauß und Linemann
Versuche gemacht, die Allgewalt desselben zu brechen, aber schwerlich mit Er¬
folg. Diese mangelhafte Bearbeitung des naturwissenschaftlichen Gebietes hatte
zur Folge, daß abergläubische Vorstellungen auch in den Kreisen der
Gebildetsten leicht Eingang fanden. In allen unglücklichen Ereignissen sah
man die Hand böser Geister. Der Professor der Mathematik Strauß ver¬
theidigte die Wirklichkeit der Zauberei und den Glauben an die Verwandlung
von Menschen in Wärwölfe. Der Doktor der Theologie Derschow fand den
Ursprung der Epidemien in den Einwirkungen der Himmelskörper und leitete
die Theuerung, die in den Jahren 1622 und 1623 herrschte, von der Thätig¬
keit böser Geister, Alphen genannt, ab, die den Bauern das Getreide ent¬
wendeten. Der Professor der Theologie Werner erkannte in Sturm und Ge¬
witter das Walten von Hexen.

Wir sehen, auch Mathematiker wie Strauß, die sonst das Recht der Er¬
fahrung verfochten, die Kepler's und Copernikus' Entdeckungen vertraten, konnten
sich doch völlig von dem Bann abergläubischer Vorstellungen, welcher die Zeit
gefangen hielt, nicht frei machen.

Auch auf dem Gebiet der Staatswissenschaften galt Aristoteles als unfehl¬
barer Meister, doch fehlte es nicht an Versuchen, politische Erfahrungslehren
zu der ihnen gebührenden Geltung zu bringen. So verfaßte der Bürgermeister
am Kneiphof, Andreas Holländer, einen „Spiegel guter und böser Regenten",
der aus dem Leben der israelitischen Könige Regeln politischer Weisheit ent¬
nahm, sie durch die Lehren älterer und neuerer Schriftsteller erläuterte und
auf die Gegenwart bezog. Viel Aufsehen erregte die Schrift des Kanzlers
Christoph von Rappe, der unter dem Pseudonym l^eiüeus g, I^Ms hervor¬
trat: „Homo Mtieus," die in ironischem Tone die Grundsätze der
Machiavellistischen Politik darstellte und auf die Jesuiten als die vorzüglichsten
Lehrer derselben hinwies. Doch wurde hier und da die Ironie nicht gemerkt, und
Gegenschriften bekämpften den Schüler Machiavellis. Rom verstand, wie es
gemeint war, und setzte das Buch auf den Index.

Auf dem historischen Gebiet wurde wenig geleistet, erst seit dem Jahre
1618 bestand ein Lehrstuhl der Geschichte an der Universität. Ein eigenthüm¬
liches Zusammentreffen, daß er zugleich mit dem Ausbruch des dreißigjährigen
Krieges errichtet wurde, als solle für die Aufzeichnung seiner thränenreichen Ge¬
schicke Sorge getragen werden. Aber freilich Objekt des historischen Vortrags


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/135>, abgerufen am 21.10.2024.