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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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machen. Man hatte angenommen, der Marsch werde ohne Verzug weiter
gehen, und so waren alle Vorkehrungen nnr für die nächste Zeit berechnet.
Aber aus den Tagen wurden Wochen, aus den Wochen Monate, und erst nach
Verlauf eines Vierteljahres kam die Entscheidung, die Ordre für das große
Lazareth in Adrianopel, nach Rußland zurückzukehren. Die Folge war, daß
Krankheiten die in Rumelien stehenden russischen Truppen -- uicht etwa blos
dezimirten, sondern um mehr als den fünften Theil vernichteten.

Obgleich man in Bujuk Derbend 800 Kranke zurückgelassen, kam die Am¬
bulanz des Hauptquartiers am 12. August doch schon mit 252 kranken Sol¬
daten und Offizieren in Adrianopel an, wo man einen Theil der vor der Stadt
gelegenen türkischen Kasernen bezog. Alles ließ sich damals recht gut an.
15,000 Türken hatten vor den Thoren das Gewehr gestreckt, das Volk kam
den Siegern mit Brot, Wein, Früchten und Zuckerwerk entgegen. Die Kaserne,
in welcher v. Sehdlitz seine Kranken untergebracht hatte, war ein stattliches,
hochgelegenes Gebäude, das vor sich einen weiten grünen, von Platanenwäld-
chen und Gurten begrenzten Platz hatte. Wer hätte gemeint, daß man hier
mehr Menschen verlieren konnte, als ein Sturm auf Konstantinopel gekostet
haben würde? Und doch kam es so. Am 17. August hatte man schon 1616,
zehn Tage später bereits 3666 und am 1. September 4641 Kranke, während
die Zahl aller in und um Adrianopel stehenden russischen Truppen kaum
mehr als 13,000 Mann betrug. Diesen Kranken war aber nicht viel mehr
als ein Obdach und die gewöhnliche Nahrung zu bieten, und selbst hinsichtlich
der letzteren gerieth man bisweilen in Verlegenheit. An Aerzten fehlte es zwar
nicht, da man aber nur wenig Krankenwärter hatte, und die Aerzte die Arze¬
neien selbst bereiten und eingeben mußten, so überstieg ihre Arbeit bald alle
Menschenkraft, und viele mußten sich auf einige Zeit von ihr zurückziehen,
um sich von den aufreibenden Strapatzen zu erholen. Nur so war zu erklären,
daß von den dreißig Aerzten des Hospitals bis zum November nicht ein ein¬
ziger gestorben war. Dann freilich brach die Pest aus, der wie überall so
auch hier der größte Theil der Aerzte erlag.

Die Patienten aber starben in der Kaserne dahin wie die Fliegen im
Herbst. Die Kaserne, in welcher sich das Lazareth unseres Doktors befand,
war ein massives zweistöckiges Steingebäude, das 1500 Schritt nordwestlich
von der Stadt lag und ein längliches Viereck mit 150 Fenstern auf den
langen und 100 auf den kurzen Fronten bildete. In der Mitte des Ostslügels
erhob sich in dem von ihr eingeschlossenen 600 Schritt langen und 350 Schritt
breiten Hofe das Minaret der Moschee für die Kaserne, vor der sich ein
Brunnen zu den religiösen Abwaschungen befand. Vier andere Brunnen, jeder
mit zwölf Hähnen, waren in den vier Ecken des Gebäudes angebracht. An


machen. Man hatte angenommen, der Marsch werde ohne Verzug weiter
gehen, und so waren alle Vorkehrungen nnr für die nächste Zeit berechnet.
Aber aus den Tagen wurden Wochen, aus den Wochen Monate, und erst nach
Verlauf eines Vierteljahres kam die Entscheidung, die Ordre für das große
Lazareth in Adrianopel, nach Rußland zurückzukehren. Die Folge war, daß
Krankheiten die in Rumelien stehenden russischen Truppen — uicht etwa blos
dezimirten, sondern um mehr als den fünften Theil vernichteten.

Obgleich man in Bujuk Derbend 800 Kranke zurückgelassen, kam die Am¬
bulanz des Hauptquartiers am 12. August doch schon mit 252 kranken Sol¬
daten und Offizieren in Adrianopel an, wo man einen Theil der vor der Stadt
gelegenen türkischen Kasernen bezog. Alles ließ sich damals recht gut an.
15,000 Türken hatten vor den Thoren das Gewehr gestreckt, das Volk kam
den Siegern mit Brot, Wein, Früchten und Zuckerwerk entgegen. Die Kaserne,
in welcher v. Sehdlitz seine Kranken untergebracht hatte, war ein stattliches,
hochgelegenes Gebäude, das vor sich einen weiten grünen, von Platanenwäld-
chen und Gurten begrenzten Platz hatte. Wer hätte gemeint, daß man hier
mehr Menschen verlieren konnte, als ein Sturm auf Konstantinopel gekostet
haben würde? Und doch kam es so. Am 17. August hatte man schon 1616,
zehn Tage später bereits 3666 und am 1. September 4641 Kranke, während
die Zahl aller in und um Adrianopel stehenden russischen Truppen kaum
mehr als 13,000 Mann betrug. Diesen Kranken war aber nicht viel mehr
als ein Obdach und die gewöhnliche Nahrung zu bieten, und selbst hinsichtlich
der letzteren gerieth man bisweilen in Verlegenheit. An Aerzten fehlte es zwar
nicht, da man aber nur wenig Krankenwärter hatte, und die Aerzte die Arze¬
neien selbst bereiten und eingeben mußten, so überstieg ihre Arbeit bald alle
Menschenkraft, und viele mußten sich auf einige Zeit von ihr zurückziehen,
um sich von den aufreibenden Strapatzen zu erholen. Nur so war zu erklären,
daß von den dreißig Aerzten des Hospitals bis zum November nicht ein ein¬
ziger gestorben war. Dann freilich brach die Pest aus, der wie überall so
auch hier der größte Theil der Aerzte erlag.

Die Patienten aber starben in der Kaserne dahin wie die Fliegen im
Herbst. Die Kaserne, in welcher sich das Lazareth unseres Doktors befand,
war ein massives zweistöckiges Steingebäude, das 1500 Schritt nordwestlich
von der Stadt lag und ein längliches Viereck mit 150 Fenstern auf den
langen und 100 auf den kurzen Fronten bildete. In der Mitte des Ostslügels
erhob sich in dem von ihr eingeschlossenen 600 Schritt langen und 350 Schritt
breiten Hofe das Minaret der Moschee für die Kaserne, vor der sich ein
Brunnen zu den religiösen Abwaschungen befand. Vier andere Brunnen, jeder
mit zwölf Hähnen, waren in den vier Ecken des Gebäudes angebracht. An


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/114>, abgerufen am 28.09.2024.