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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Aus dem HedenKöuch eines russischen Arztes.

Die Russen sind über die Donau gegangen, sie rücken rasch in der Do-
brudscha und in Bulgarien vor, sie werden durch Ueberzahl und bessere Füh¬
rung die ihnen entgegentretenden Türken unaufhaltsam nach dem Balkan zurück¬
drängen und vermuthlich auch vor dessen Pässen nicht stehen bleiben. Waffen¬
gewalt wird ihnen schwerlich Stillstand oder Rückgang gebieten. Sie werden
siegen; denn sie müssen siegen. Aber Heere haben Feinde, die schlimmer sind,
als tapfere Bataillone und Schwadronen, und die Gegenden, welche das
russische Heer von der Donau bis nach Stambul zu durchziehen hat, bergen
diese Feinde in größerer Zahl als andere. Mit dem Hochsommer treten in
Bulgarien gefährliche Wechselfieber ans, und die Ruhr grassirt in schrecklicher
Weise unter Menschenanhäufungen, wo der Einzelne sich nicht schonen oder
schützen kann. Sehr möglich, daß diese und andere Krankheiten den Russen
mehr Mannschaften kosten werden, als die Feldschlachten, die ihnen bevor¬
stehen. 1829 waren ihre Verluste in dieser Beziehung ungeheuer, und es
starben ihnen in diesem Feldzuge verhältnißmäßig an Seuchen nahezu ebenso
viel Leute als 1812 die große Armee Napoleon's durch Kälte und Hunger
verlor. Auch in dieser Rücksicht darf man prophezeien: sie werden siegen,
aber sie werden ihren Sieg nicht wohlfeil haben.

Dr. v. Seydlitz, 1829 Oberarzt beim mobilen Spital des zweiten russischen
Armeekorps, hat' soeben Erinnerungen ans dem damaligen Türkenkriege ver¬
öffentlicht, die, auch sonst großentheils recht interessant, vorzüglich in seiner
Schilderung der Schwierigkeiten und Gefahren, welche den Russen während
ihres Balkanfeldzugs in gesundheitlicher Beziehung entgegentraten, im jetzigen
Augenblicke unser Interesse beanspruchen können. Wir werden zwar dabei zu
berücksichtigen haben, daß die Krankenpflege heutzutage wie bei allen Armeen,
so anch bei der jetzt in Bulgarien operirenden russischen weit besser organisirt ist als
vor etwa fünfzig Jahren, aber die natürlichen Verhältnisse, die Hitze des Som¬
mers in den Gegenden nördlich und südlich vom Balkan, der Wassermangel,
die Sumpfluft vieler Landstriche, das Fehlen an geeigneten Orten zur Unter¬
bringung ertränkter Soldaten werden noch heute Veranlassung zu starken Ver¬
lusten werden, wie sorgfältig man sich auch gegen alles das vorgesehen
haben mag..

Es war im August des Jahres 1829. Die Russen hatten damals bei
Varna und Schumla gesiegt, sie hatten den Balkan überschritten und Adria¬
nopel besetzt. General Roth war kaum noch zwanzig deutsche Meilen von
Konstantinopel entfernt, als er in Luke' Burgas den Befehl erhielt, Halt zu


Grenzboten III. 1877. 14
Aus dem HedenKöuch eines russischen Arztes.

Die Russen sind über die Donau gegangen, sie rücken rasch in der Do-
brudscha und in Bulgarien vor, sie werden durch Ueberzahl und bessere Füh¬
rung die ihnen entgegentretenden Türken unaufhaltsam nach dem Balkan zurück¬
drängen und vermuthlich auch vor dessen Pässen nicht stehen bleiben. Waffen¬
gewalt wird ihnen schwerlich Stillstand oder Rückgang gebieten. Sie werden
siegen; denn sie müssen siegen. Aber Heere haben Feinde, die schlimmer sind,
als tapfere Bataillone und Schwadronen, und die Gegenden, welche das
russische Heer von der Donau bis nach Stambul zu durchziehen hat, bergen
diese Feinde in größerer Zahl als andere. Mit dem Hochsommer treten in
Bulgarien gefährliche Wechselfieber ans, und die Ruhr grassirt in schrecklicher
Weise unter Menschenanhäufungen, wo der Einzelne sich nicht schonen oder
schützen kann. Sehr möglich, daß diese und andere Krankheiten den Russen
mehr Mannschaften kosten werden, als die Feldschlachten, die ihnen bevor¬
stehen. 1829 waren ihre Verluste in dieser Beziehung ungeheuer, und es
starben ihnen in diesem Feldzuge verhältnißmäßig an Seuchen nahezu ebenso
viel Leute als 1812 die große Armee Napoleon's durch Kälte und Hunger
verlor. Auch in dieser Rücksicht darf man prophezeien: sie werden siegen,
aber sie werden ihren Sieg nicht wohlfeil haben.

Dr. v. Seydlitz, 1829 Oberarzt beim mobilen Spital des zweiten russischen
Armeekorps, hat' soeben Erinnerungen ans dem damaligen Türkenkriege ver¬
öffentlicht, die, auch sonst großentheils recht interessant, vorzüglich in seiner
Schilderung der Schwierigkeiten und Gefahren, welche den Russen während
ihres Balkanfeldzugs in gesundheitlicher Beziehung entgegentraten, im jetzigen
Augenblicke unser Interesse beanspruchen können. Wir werden zwar dabei zu
berücksichtigen haben, daß die Krankenpflege heutzutage wie bei allen Armeen,
so anch bei der jetzt in Bulgarien operirenden russischen weit besser organisirt ist als
vor etwa fünfzig Jahren, aber die natürlichen Verhältnisse, die Hitze des Som¬
mers in den Gegenden nördlich und südlich vom Balkan, der Wassermangel,
die Sumpfluft vieler Landstriche, das Fehlen an geeigneten Orten zur Unter¬
bringung ertränkter Soldaten werden noch heute Veranlassung zu starken Ver¬
lusten werden, wie sorgfältig man sich auch gegen alles das vorgesehen
haben mag..

Es war im August des Jahres 1829. Die Russen hatten damals bei
Varna und Schumla gesiegt, sie hatten den Balkan überschritten und Adria¬
nopel besetzt. General Roth war kaum noch zwanzig deutsche Meilen von
Konstantinopel entfernt, als er in Luke' Burgas den Befehl erhielt, Halt zu


Grenzboten III. 1877. 14
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[0113] Aus dem HedenKöuch eines russischen Arztes. Die Russen sind über die Donau gegangen, sie rücken rasch in der Do- brudscha und in Bulgarien vor, sie werden durch Ueberzahl und bessere Füh¬ rung die ihnen entgegentretenden Türken unaufhaltsam nach dem Balkan zurück¬ drängen und vermuthlich auch vor dessen Pässen nicht stehen bleiben. Waffen¬ gewalt wird ihnen schwerlich Stillstand oder Rückgang gebieten. Sie werden siegen; denn sie müssen siegen. Aber Heere haben Feinde, die schlimmer sind, als tapfere Bataillone und Schwadronen, und die Gegenden, welche das russische Heer von der Donau bis nach Stambul zu durchziehen hat, bergen diese Feinde in größerer Zahl als andere. Mit dem Hochsommer treten in Bulgarien gefährliche Wechselfieber ans, und die Ruhr grassirt in schrecklicher Weise unter Menschenanhäufungen, wo der Einzelne sich nicht schonen oder schützen kann. Sehr möglich, daß diese und andere Krankheiten den Russen mehr Mannschaften kosten werden, als die Feldschlachten, die ihnen bevor¬ stehen. 1829 waren ihre Verluste in dieser Beziehung ungeheuer, und es starben ihnen in diesem Feldzuge verhältnißmäßig an Seuchen nahezu ebenso viel Leute als 1812 die große Armee Napoleon's durch Kälte und Hunger verlor. Auch in dieser Rücksicht darf man prophezeien: sie werden siegen, aber sie werden ihren Sieg nicht wohlfeil haben. Dr. v. Seydlitz, 1829 Oberarzt beim mobilen Spital des zweiten russischen Armeekorps, hat' soeben Erinnerungen ans dem damaligen Türkenkriege ver¬ öffentlicht, die, auch sonst großentheils recht interessant, vorzüglich in seiner Schilderung der Schwierigkeiten und Gefahren, welche den Russen während ihres Balkanfeldzugs in gesundheitlicher Beziehung entgegentraten, im jetzigen Augenblicke unser Interesse beanspruchen können. Wir werden zwar dabei zu berücksichtigen haben, daß die Krankenpflege heutzutage wie bei allen Armeen, so anch bei der jetzt in Bulgarien operirenden russischen weit besser organisirt ist als vor etwa fünfzig Jahren, aber die natürlichen Verhältnisse, die Hitze des Som¬ mers in den Gegenden nördlich und südlich vom Balkan, der Wassermangel, die Sumpfluft vieler Landstriche, das Fehlen an geeigneten Orten zur Unter¬ bringung ertränkter Soldaten werden noch heute Veranlassung zu starken Ver¬ lusten werden, wie sorgfältig man sich auch gegen alles das vorgesehen haben mag.. Es war im August des Jahres 1829. Die Russen hatten damals bei Varna und Schumla gesiegt, sie hatten den Balkan überschritten und Adria¬ nopel besetzt. General Roth war kaum noch zwanzig deutsche Meilen von Konstantinopel entfernt, als er in Luke' Burgas den Befehl erhielt, Halt zu Grenzboten III. 1877. 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/113>, abgerufen am 28.09.2024.