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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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sondern auch mit Beziehung auf das Wiederaufleben, und daß die Hoffnungen
auf eine andere dem Menschen nach dem Tode beschiedene Existenz sich gerade
an den Kultus der beiden Göttinnen, wie man sie in Athen nannte, anschließen
konnten. Wann dies aber geschehen, wäre thöricht ergründen zu wollen; denn
auch von diesen Hoffnungen selbst, sagt Aristoteles, wisse niemand den Urheber,
sondern seit unendlicher Zeit habe dieser Glaube unter den Menschen bestanden.

In der dargestellten älteren Form des Mythus ist von dem Sohne
Jacchos noch keine Rede; dieser Sohn der Persephone kommt unter dem Namen
Zagreus in der späteren Umbildung vor, welche sich ans den Namen des Or¬
pheus zurückführte. Diese orphische Götterlehre, in Wahrheit lange nach
Homer entstanden, ist durchaus eine mystische, mit entschiedener Neigung, die
klar und scharf bestimmten Göttergestalten des Homer in pantheistischer Weise
Zu vermischen, dabei jedoch in derselben Form des Mythus vorgetragen, und
dies nicht etwa in reinerer, sondern im Gegentheil viel anstößigerer Darstel¬
lung, als es die homerischen Göttergeschichten sind. In der Erzählung vom
Raube der Persephone weicht die orphische Sage auch darin ab, daß sie die
Bewohner von Eleusis, zu denen Demeter kam, nicht als Ackerbauer, souderu
als arme rohe Hirten darstellt, welchen die Göttin erst den Ackerbau lehrt; hier
finden wir also die zu Anfang mitgetheilte isokratische Darstellung wieder.
Von Dionysos-Zagreus wußten die Orphiker viel Abgeschmacktes zu erzählen,
doch zeigt sich nicht, daß dem eleusinischen Jacchos in den Mysterien derartige
Schicksale als Anlaß zur Trauer oder zur Freude der Feiernden beigelegt
wären, so daß überhaupt die Verehrung dieses dritten Gottes nicht auf die or-
phischen Sagen, sondern, wie man vermuthet hat, auf die Verschmelzung ur¬
sprünglich eleusinischer und ätherischer Kulte zurückgehen wird. Hinterdrein
haben ohne Zweifel die orphischen Lehren in Eleusis Eingang gefunden und
Einfluß geübt, aber wann und in welchem Maße, darüber läßt sich nichts
sicheres angeben.

Die Vorsteherschaft und Leitung des eleusinischen Kultus war erblich in
gewissen Geschlechtern, namentlich den Eumolpiden und den Kerykes, von denen
jenem die Würde des Hierophanten, d. i. des Zeigers des Heiligen zukam,
während der Geschlechtsname Eumolpiden auf deu Vortrag oder die Einrichtung
und Leitung heiliger Gesänge deutet, das Geschlecht der Kerykes aber nicht
allein, was der Name besagt, den Heroldsdienst bei der Feier, sondern auch die
"ach dem Hierophanten höchste Würde eines Dciduchos, d. i. Fackelträgers
erblich besaß. Diese geistlichen Aemter hinderten indeß nach griechischem Ge¬
brauche durchaus nicht, daß die Träger derselben alle bürgerlichen Funktionen
gleich den übrigen Athenern ausübten. Es bestanden nun die Mysterien aus
zwei jährlich wiederkehrenden getrennten Festen, den sogenannten kleinen My-


sondern auch mit Beziehung auf das Wiederaufleben, und daß die Hoffnungen
auf eine andere dem Menschen nach dem Tode beschiedene Existenz sich gerade
an den Kultus der beiden Göttinnen, wie man sie in Athen nannte, anschließen
konnten. Wann dies aber geschehen, wäre thöricht ergründen zu wollen; denn
auch von diesen Hoffnungen selbst, sagt Aristoteles, wisse niemand den Urheber,
sondern seit unendlicher Zeit habe dieser Glaube unter den Menschen bestanden.

In der dargestellten älteren Form des Mythus ist von dem Sohne
Jacchos noch keine Rede; dieser Sohn der Persephone kommt unter dem Namen
Zagreus in der späteren Umbildung vor, welche sich ans den Namen des Or¬
pheus zurückführte. Diese orphische Götterlehre, in Wahrheit lange nach
Homer entstanden, ist durchaus eine mystische, mit entschiedener Neigung, die
klar und scharf bestimmten Göttergestalten des Homer in pantheistischer Weise
Zu vermischen, dabei jedoch in derselben Form des Mythus vorgetragen, und
dies nicht etwa in reinerer, sondern im Gegentheil viel anstößigerer Darstel¬
lung, als es die homerischen Göttergeschichten sind. In der Erzählung vom
Raube der Persephone weicht die orphische Sage auch darin ab, daß sie die
Bewohner von Eleusis, zu denen Demeter kam, nicht als Ackerbauer, souderu
als arme rohe Hirten darstellt, welchen die Göttin erst den Ackerbau lehrt; hier
finden wir also die zu Anfang mitgetheilte isokratische Darstellung wieder.
Von Dionysos-Zagreus wußten die Orphiker viel Abgeschmacktes zu erzählen,
doch zeigt sich nicht, daß dem eleusinischen Jacchos in den Mysterien derartige
Schicksale als Anlaß zur Trauer oder zur Freude der Feiernden beigelegt
wären, so daß überhaupt die Verehrung dieses dritten Gottes nicht auf die or-
phischen Sagen, sondern, wie man vermuthet hat, auf die Verschmelzung ur¬
sprünglich eleusinischer und ätherischer Kulte zurückgehen wird. Hinterdrein
haben ohne Zweifel die orphischen Lehren in Eleusis Eingang gefunden und
Einfluß geübt, aber wann und in welchem Maße, darüber läßt sich nichts
sicheres angeben.

Die Vorsteherschaft und Leitung des eleusinischen Kultus war erblich in
gewissen Geschlechtern, namentlich den Eumolpiden und den Kerykes, von denen
jenem die Würde des Hierophanten, d. i. des Zeigers des Heiligen zukam,
während der Geschlechtsname Eumolpiden auf deu Vortrag oder die Einrichtung
und Leitung heiliger Gesänge deutet, das Geschlecht der Kerykes aber nicht
allein, was der Name besagt, den Heroldsdienst bei der Feier, sondern auch die
«ach dem Hierophanten höchste Würde eines Dciduchos, d. i. Fackelträgers
erblich besaß. Diese geistlichen Aemter hinderten indeß nach griechischem Ge¬
brauche durchaus nicht, daß die Träger derselben alle bürgerlichen Funktionen
gleich den übrigen Athenern ausübten. Es bestanden nun die Mysterien aus
zwei jährlich wiederkehrenden getrennten Festen, den sogenannten kleinen My-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/369>, abgerufen am 22.07.2024.