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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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selbstständigen, sodann mit Athen zu einem Staatswesen vereinigten Orte
etwa 4 Stunden westlich von letzterer Stadt, seit undenklichen Zeiten Demeter
und ihre Tochter Persephone, von den Athenern insgemein Kore d. i. das
Mädchen genannt, an heiliger Stätte verehrt; den beiden Göttinnen gesellte sich,
man weiß nicht manu, als dritte Gottheit Persephone's Sohn Jakchos zu, ein
mit Bacchos-Dionysos identisches Wesen. Die heilige Sage in der Form, wie
sie der homerische Hymnos auf Demeter enthält, lautet folgendermaßen. Während
Persephone auf einer Ane mit ihren Gespielinnen Blumen pflückt, öffnet sich
plötzlich die Erde: der Fürst der Unterwelt, Hades, steigt mit seinem Wagen
herauf, ergreift das sich sträubende Mädchen und führt es von bannen in seine
unterirdische Behausung. Ihr Geschrei hört die Mutter Demeter, und durch¬
irrt nun rathlos suchend die Länder, bis der Sonnengott, der alles gesehen,
ihr mittheilt, daß Persephone von Hades, dem sie Zeus selber zur Gattin
gegeben, entführt sei. Da meidet die zürnende Göttin den Olymp und die
Himmlischen, und durchwandert trauernd in verwandelter Gestalt die Wohnsitze
der Menschen, bis sie in Eleusis, von den Töchtern und der Gemahlin des
Fürsten Keleos freundlich aufgenommen, Pflegerin des jungen Sohnes des
Fiirsten wird. Während der Zeit läßt sie in ihrem Zorne nichts ans Erden
wachsen,' und die Olympier hätten durch das Hinscheiden des Menschengeschlechtes
ihre Ehren und Opfer verloren, wenn nicht Zeus jetzt vermittelt und die
Persephone aus dem Hades zu ihrer Mutter herausgeschickt hätte, bei der sie
uun fortan zwei Drittel des Jahres weilen soll, während sie den übrigen Theil
als Hades' Gemahlin in der Unterwelt herrscht. In Eleusis aber läßt Demeter
sich einen Tempel bauen und stiftet ihre Weihen. So der Mythus, dessen
Bedeutung, von der Stiftungsgeschichte des Kultus abgesehen, eine noch sehr
durchsichtige Natursymbolik ist. In jenen alten Zeiten, in denen solche Mythen
entstanden sind, übte das Naturleben mit seinem regelmäßigen Wechsel einen
wunderbaren Einfluß auf die Menschen ans, und die Idee der Gottheit vermischte
sich ihnen mit der Natur so völlig, daß sie das, was die Natur erlitt, auch
die Gottheit leiden ließen. Demeter ist die Erde, ihr Kind der grünende
Schmuck der Erde; im heißen Sommer nun erstirbt die Vegetation und bleibt
den Winter über in der Erde verborgen, also Persephone wird von dem Gotte
der Erdtiefe geraubt. Aber im Frühlinge kommt alles wieder hervor: die
Geraubte kehrt aus dem Schattenreiche zurück. Das Hinsterben der Natur
wie ihr Wiederaufleben wurde bei den Griechen und anderen Völkern mit
entsprechenden Festen gefeiert: jenes unter leidenschaftlichem Schmerze und
Mitgefühl mit der trauernden Mutter, dieses mit ausgelassener Freude. Und
wiederum ist auch das leicht verständlich, wie man das Menschenleben mit
dem der Natur in Parallele brachte, nicht nnr in Beziehung ans das Hinsterben,


selbstständigen, sodann mit Athen zu einem Staatswesen vereinigten Orte
etwa 4 Stunden westlich von letzterer Stadt, seit undenklichen Zeiten Demeter
und ihre Tochter Persephone, von den Athenern insgemein Kore d. i. das
Mädchen genannt, an heiliger Stätte verehrt; den beiden Göttinnen gesellte sich,
man weiß nicht manu, als dritte Gottheit Persephone's Sohn Jakchos zu, ein
mit Bacchos-Dionysos identisches Wesen. Die heilige Sage in der Form, wie
sie der homerische Hymnos auf Demeter enthält, lautet folgendermaßen. Während
Persephone auf einer Ane mit ihren Gespielinnen Blumen pflückt, öffnet sich
plötzlich die Erde: der Fürst der Unterwelt, Hades, steigt mit seinem Wagen
herauf, ergreift das sich sträubende Mädchen und führt es von bannen in seine
unterirdische Behausung. Ihr Geschrei hört die Mutter Demeter, und durch¬
irrt nun rathlos suchend die Länder, bis der Sonnengott, der alles gesehen,
ihr mittheilt, daß Persephone von Hades, dem sie Zeus selber zur Gattin
gegeben, entführt sei. Da meidet die zürnende Göttin den Olymp und die
Himmlischen, und durchwandert trauernd in verwandelter Gestalt die Wohnsitze
der Menschen, bis sie in Eleusis, von den Töchtern und der Gemahlin des
Fürsten Keleos freundlich aufgenommen, Pflegerin des jungen Sohnes des
Fiirsten wird. Während der Zeit läßt sie in ihrem Zorne nichts ans Erden
wachsen,' und die Olympier hätten durch das Hinscheiden des Menschengeschlechtes
ihre Ehren und Opfer verloren, wenn nicht Zeus jetzt vermittelt und die
Persephone aus dem Hades zu ihrer Mutter herausgeschickt hätte, bei der sie
uun fortan zwei Drittel des Jahres weilen soll, während sie den übrigen Theil
als Hades' Gemahlin in der Unterwelt herrscht. In Eleusis aber läßt Demeter
sich einen Tempel bauen und stiftet ihre Weihen. So der Mythus, dessen
Bedeutung, von der Stiftungsgeschichte des Kultus abgesehen, eine noch sehr
durchsichtige Natursymbolik ist. In jenen alten Zeiten, in denen solche Mythen
entstanden sind, übte das Naturleben mit seinem regelmäßigen Wechsel einen
wunderbaren Einfluß auf die Menschen ans, und die Idee der Gottheit vermischte
sich ihnen mit der Natur so völlig, daß sie das, was die Natur erlitt, auch
die Gottheit leiden ließen. Demeter ist die Erde, ihr Kind der grünende
Schmuck der Erde; im heißen Sommer nun erstirbt die Vegetation und bleibt
den Winter über in der Erde verborgen, also Persephone wird von dem Gotte
der Erdtiefe geraubt. Aber im Frühlinge kommt alles wieder hervor: die
Geraubte kehrt aus dem Schattenreiche zurück. Das Hinsterben der Natur
wie ihr Wiederaufleben wurde bei den Griechen und anderen Völkern mit
entsprechenden Festen gefeiert: jenes unter leidenschaftlichem Schmerze und
Mitgefühl mit der trauernden Mutter, dieses mit ausgelassener Freude. Und
wiederum ist auch das leicht verständlich, wie man das Menschenleben mit
dem der Natur in Parallele brachte, nicht nnr in Beziehung ans das Hinsterben,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/368>, abgerufen am 22.07.2024.