Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

kam ihm um wie ein Nonnenkloster vor. Und auf der Hauptstraße entdeckte
er eine ungewöhnliche Lebendigkeit und Rührigkeit. Die Straße war voll voll
Gruppen von Männern und Frauen und isolirte Gestalten, denen vielleicht
die Ferne eine Art unheimlichen Aussehens verlieh, sah man hastig hierhin
und dorthin laufen. Lynde dachte, eine öffentliche Feier zu, erleben. Er schickte
sich an, weiter zu gehen, als sich ihm ein Maun näherte, ein alter Herr in
einem etwas abgeschabte" Anzüge, aber immer noch respektabel. Er trug seinen
Hut in der Hand und fächelte sich damit Luft zu. Eine Fülle schneeweißen
Haares, in der Mitte gescheitelt, fiel zu beiden Seite" eines Angesichtes herab,
welches wegen seines wohlwollenden und simpeln Ausdrucks merkwürdig war.
Es war eine gewisse Entferntheit von der Gegenwart nu dieser Persönlichkeit.
Die breite ruhige Stirn und das Doppelkinn über der hohen Halsbinde erinnerten
an Doktor Franklin. "Ah, der Dorfpfarrer!" sagte sich Lynde. "Ehrwürdiger
und allerliebster alter Herr." Ich werde ihn anreden. Der alte Herr hatte
den Kopf leicht zurückgeworfen und die Augen aufmerksam auf einen Gegenstand
droben am Himmel gerichtet und stand auf dem Punkte, an Lynde vorüberzu¬
gehen, ohne ihn zu bemerken, als der junge Mann höflich den Hut abnahm
und sagte: "Ich bitte um Verzeihung, mein Herr, aber wollen Sie wohl so
freundlich sein, mir den Namen des Städtchens da drüben zu sagen?" Der
alte Herr ließ seine Angen langsam vom Himmel herab gehen und heftete sie
ausdruckslos auf Lynde, gab aber keine Antwort. Lynde nahm an, er sei
schwerhörig, und wiederholte seine Frage in einem dem darauf sich gründenden
Bedürfniß angepaßten Tone. Ohne eine Veränderung in seinen milden, wohl¬
wollenden Gesichtszügen und mit einer Stimme, deren Modulationen eigeu-
thümlich musikalisch waren, rief der alte Herr aus: "Scheren Sie sich zum
Teufel!" und ging weiter. Ehe sich Lynde von seiner Ueberraschung erholte,
war der alte Herr schon hoch oben auf dem AbHange, und sein Blick haftete
wieder auf einem entfernten Punkte am Zenith. "So war es doch am Ende
nicht der Dorfpfarrer", sagte sich Lynde lachend, "es war der Trunkenbold des
Dorfes. Er ist ein frühwacher Vogel -- daß muß man ihm lassen -- sich
schon in dieser Stunde des Morgens das Würmchen zu Gemüthe gezogen zu
haben, das ihn benebelt."

Lynde lud nun den Sattel wieder auf und setzte sich nach dem Städtchen
in Bewegung, als eine zweite Gestalt sich ihm näherte, die nicht weniger auf¬
fallend war, als der alte Herr. "Es war ein junges Mädchen von ungefähr
siebzehn Jahren in einem lose sitzenden flatternden Kleide von weichem weißen
Stoffe, welches über den Hüften von einem breiten rothen Bande zusammen¬
gehalten wurde. Sie war ohne Hut und Umschlagetuch und trug ihr Haar,
welches sehr lang und sehr schwarz war, so, daß es ihr aufgelöst über die


kam ihm um wie ein Nonnenkloster vor. Und auf der Hauptstraße entdeckte
er eine ungewöhnliche Lebendigkeit und Rührigkeit. Die Straße war voll voll
Gruppen von Männern und Frauen und isolirte Gestalten, denen vielleicht
die Ferne eine Art unheimlichen Aussehens verlieh, sah man hastig hierhin
und dorthin laufen. Lynde dachte, eine öffentliche Feier zu, erleben. Er schickte
sich an, weiter zu gehen, als sich ihm ein Maun näherte, ein alter Herr in
einem etwas abgeschabte» Anzüge, aber immer noch respektabel. Er trug seinen
Hut in der Hand und fächelte sich damit Luft zu. Eine Fülle schneeweißen
Haares, in der Mitte gescheitelt, fiel zu beiden Seite» eines Angesichtes herab,
welches wegen seines wohlwollenden und simpeln Ausdrucks merkwürdig war.
Es war eine gewisse Entferntheit von der Gegenwart nu dieser Persönlichkeit.
Die breite ruhige Stirn und das Doppelkinn über der hohen Halsbinde erinnerten
an Doktor Franklin. „Ah, der Dorfpfarrer!" sagte sich Lynde. „Ehrwürdiger
und allerliebster alter Herr." Ich werde ihn anreden. Der alte Herr hatte
den Kopf leicht zurückgeworfen und die Augen aufmerksam auf einen Gegenstand
droben am Himmel gerichtet und stand auf dem Punkte, an Lynde vorüberzu¬
gehen, ohne ihn zu bemerken, als der junge Mann höflich den Hut abnahm
und sagte: „Ich bitte um Verzeihung, mein Herr, aber wollen Sie wohl so
freundlich sein, mir den Namen des Städtchens da drüben zu sagen?" Der
alte Herr ließ seine Angen langsam vom Himmel herab gehen und heftete sie
ausdruckslos auf Lynde, gab aber keine Antwort. Lynde nahm an, er sei
schwerhörig, und wiederholte seine Frage in einem dem darauf sich gründenden
Bedürfniß angepaßten Tone. Ohne eine Veränderung in seinen milden, wohl¬
wollenden Gesichtszügen und mit einer Stimme, deren Modulationen eigeu-
thümlich musikalisch waren, rief der alte Herr aus: „Scheren Sie sich zum
Teufel!" und ging weiter. Ehe sich Lynde von seiner Ueberraschung erholte,
war der alte Herr schon hoch oben auf dem AbHange, und sein Blick haftete
wieder auf einem entfernten Punkte am Zenith. „So war es doch am Ende
nicht der Dorfpfarrer", sagte sich Lynde lachend, „es war der Trunkenbold des
Dorfes. Er ist ein frühwacher Vogel — daß muß man ihm lassen — sich
schon in dieser Stunde des Morgens das Würmchen zu Gemüthe gezogen zu
haben, das ihn benebelt."

Lynde lud nun den Sattel wieder auf und setzte sich nach dem Städtchen
in Bewegung, als eine zweite Gestalt sich ihm näherte, die nicht weniger auf¬
fallend war, als der alte Herr. „Es war ein junges Mädchen von ungefähr
siebzehn Jahren in einem lose sitzenden flatternden Kleide von weichem weißen
Stoffe, welches über den Hüften von einem breiten rothen Bande zusammen¬
gehalten wurde. Sie war ohne Hut und Umschlagetuch und trug ihr Haar,
welches sehr lang und sehr schwarz war, so, daß es ihr aufgelöst über die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0346" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139105"/>
          <p xml:id="ID_1006" prev="#ID_1005"> kam ihm um wie ein Nonnenkloster vor. Und auf der Hauptstraße entdeckte<lb/>
er eine ungewöhnliche Lebendigkeit und Rührigkeit. Die Straße war voll voll<lb/>
Gruppen von Männern und Frauen und isolirte Gestalten, denen vielleicht<lb/>
die Ferne eine Art unheimlichen Aussehens verlieh, sah man hastig hierhin<lb/>
und dorthin laufen. Lynde dachte, eine öffentliche Feier zu, erleben. Er schickte<lb/>
sich an, weiter zu gehen, als sich ihm ein Maun näherte, ein alter Herr in<lb/>
einem etwas abgeschabte» Anzüge, aber immer noch respektabel. Er trug seinen<lb/>
Hut in der Hand und fächelte sich damit Luft zu. Eine Fülle schneeweißen<lb/>
Haares, in der Mitte gescheitelt, fiel zu beiden Seite» eines Angesichtes herab,<lb/>
welches wegen seines wohlwollenden und simpeln Ausdrucks merkwürdig war.<lb/>
Es war eine gewisse Entferntheit von der Gegenwart nu dieser Persönlichkeit.<lb/>
Die breite ruhige Stirn und das Doppelkinn über der hohen Halsbinde erinnerten<lb/>
an Doktor Franklin. &#x201E;Ah, der Dorfpfarrer!" sagte sich Lynde. &#x201E;Ehrwürdiger<lb/>
und allerliebster alter Herr." Ich werde ihn anreden. Der alte Herr hatte<lb/>
den Kopf leicht zurückgeworfen und die Augen aufmerksam auf einen Gegenstand<lb/>
droben am Himmel gerichtet und stand auf dem Punkte, an Lynde vorüberzu¬<lb/>
gehen, ohne ihn zu bemerken, als der junge Mann höflich den Hut abnahm<lb/>
und sagte: &#x201E;Ich bitte um Verzeihung, mein Herr, aber wollen Sie wohl so<lb/>
freundlich sein, mir den Namen des Städtchens da drüben zu sagen?" Der<lb/>
alte Herr ließ seine Angen langsam vom Himmel herab gehen und heftete sie<lb/>
ausdruckslos auf Lynde, gab aber keine Antwort. Lynde nahm an, er sei<lb/>
schwerhörig, und wiederholte seine Frage in einem dem darauf sich gründenden<lb/>
Bedürfniß angepaßten Tone. Ohne eine Veränderung in seinen milden, wohl¬<lb/>
wollenden Gesichtszügen und mit einer Stimme, deren Modulationen eigeu-<lb/>
thümlich musikalisch waren, rief der alte Herr aus: &#x201E;Scheren Sie sich zum<lb/>
Teufel!" und ging weiter. Ehe sich Lynde von seiner Ueberraschung erholte,<lb/>
war der alte Herr schon hoch oben auf dem AbHange, und sein Blick haftete<lb/>
wieder auf einem entfernten Punkte am Zenith. &#x201E;So war es doch am Ende<lb/>
nicht der Dorfpfarrer", sagte sich Lynde lachend, &#x201E;es war der Trunkenbold des<lb/>
Dorfes. Er ist ein frühwacher Vogel &#x2014; daß muß man ihm lassen &#x2014; sich<lb/>
schon in dieser Stunde des Morgens das Würmchen zu Gemüthe gezogen zu<lb/>
haben, das ihn benebelt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1007" next="#ID_1008"> Lynde lud nun den Sattel wieder auf und setzte sich nach dem Städtchen<lb/>
in Bewegung, als eine zweite Gestalt sich ihm näherte, die nicht weniger auf¬<lb/>
fallend war, als der alte Herr. &#x201E;Es war ein junges Mädchen von ungefähr<lb/>
siebzehn Jahren in einem lose sitzenden flatternden Kleide von weichem weißen<lb/>
Stoffe, welches über den Hüften von einem breiten rothen Bande zusammen¬<lb/>
gehalten wurde. Sie war ohne Hut und Umschlagetuch und trug ihr Haar,<lb/>
welches sehr lang und sehr schwarz war, so, daß es ihr aufgelöst über die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0346] kam ihm um wie ein Nonnenkloster vor. Und auf der Hauptstraße entdeckte er eine ungewöhnliche Lebendigkeit und Rührigkeit. Die Straße war voll voll Gruppen von Männern und Frauen und isolirte Gestalten, denen vielleicht die Ferne eine Art unheimlichen Aussehens verlieh, sah man hastig hierhin und dorthin laufen. Lynde dachte, eine öffentliche Feier zu, erleben. Er schickte sich an, weiter zu gehen, als sich ihm ein Maun näherte, ein alter Herr in einem etwas abgeschabte» Anzüge, aber immer noch respektabel. Er trug seinen Hut in der Hand und fächelte sich damit Luft zu. Eine Fülle schneeweißen Haares, in der Mitte gescheitelt, fiel zu beiden Seite» eines Angesichtes herab, welches wegen seines wohlwollenden und simpeln Ausdrucks merkwürdig war. Es war eine gewisse Entferntheit von der Gegenwart nu dieser Persönlichkeit. Die breite ruhige Stirn und das Doppelkinn über der hohen Halsbinde erinnerten an Doktor Franklin. „Ah, der Dorfpfarrer!" sagte sich Lynde. „Ehrwürdiger und allerliebster alter Herr." Ich werde ihn anreden. Der alte Herr hatte den Kopf leicht zurückgeworfen und die Augen aufmerksam auf einen Gegenstand droben am Himmel gerichtet und stand auf dem Punkte, an Lynde vorüberzu¬ gehen, ohne ihn zu bemerken, als der junge Mann höflich den Hut abnahm und sagte: „Ich bitte um Verzeihung, mein Herr, aber wollen Sie wohl so freundlich sein, mir den Namen des Städtchens da drüben zu sagen?" Der alte Herr ließ seine Angen langsam vom Himmel herab gehen und heftete sie ausdruckslos auf Lynde, gab aber keine Antwort. Lynde nahm an, er sei schwerhörig, und wiederholte seine Frage in einem dem darauf sich gründenden Bedürfniß angepaßten Tone. Ohne eine Veränderung in seinen milden, wohl¬ wollenden Gesichtszügen und mit einer Stimme, deren Modulationen eigeu- thümlich musikalisch waren, rief der alte Herr aus: „Scheren Sie sich zum Teufel!" und ging weiter. Ehe sich Lynde von seiner Ueberraschung erholte, war der alte Herr schon hoch oben auf dem AbHange, und sein Blick haftete wieder auf einem entfernten Punkte am Zenith. „So war es doch am Ende nicht der Dorfpfarrer", sagte sich Lynde lachend, „es war der Trunkenbold des Dorfes. Er ist ein frühwacher Vogel — daß muß man ihm lassen — sich schon in dieser Stunde des Morgens das Würmchen zu Gemüthe gezogen zu haben, das ihn benebelt." Lynde lud nun den Sattel wieder auf und setzte sich nach dem Städtchen in Bewegung, als eine zweite Gestalt sich ihm näherte, die nicht weniger auf¬ fallend war, als der alte Herr. „Es war ein junges Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren in einem lose sitzenden flatternden Kleide von weichem weißen Stoffe, welches über den Hüften von einem breiten rothen Bande zusammen¬ gehalten wurde. Sie war ohne Hut und Umschlagetuch und trug ihr Haar, welches sehr lang und sehr schwarz war, so, daß es ihr aufgelöst über die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/346
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/346>, abgerufen am 03.07.2024.