Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

regung war. In dieser Krankheit wurden die Betroffenen von einer wilden
Tanzwuth ergriffen, der sie selbst nicht widerstehen konnten, und unter lautem
Schreckensgeschrei verkündeten sie dabei die Macht des Teufels und seinen
Sieg. Es wird bemerkt, daß die Krankheit sich besonders stark dort zeigte,
wo am meisten Fälle von Hexerei konstatirt waren, wie in den Sprengeln von
Köln und Trier. Die Heilung wurde besonders durch Exorzismus bewirkt,
und es läßt sich denken, daß die Krankheit, nach der Form ihrer Erscheinung,
vorzugsweise dem Teufel und feinen Dienern zugeschrieben wurde. Man sieht,
in welchem Grade damals die Phantasie erregt, die Seelen durch Schrecken
und Angst exaltirt waren und es wird erklärlich, daß die Idee der Hexerei
von vielen Elenden ergriffen wurde, um als Rettungsmittel aus der Pein, auch
als Mittel zur Rache und Vergeltung verwandt zu werden, während auf der
andern Seite wiederum kein Mittel für zu furchtbar galt, um der Hexerei zu
steuern, welche den Feinden derselben als die Hauptursache, uicht als die Folge
der großen Leiden erschien. Aus diesen und anderen Verhältnissen gewann im
1.5. Jahrhundert außerdem eine geistige und sittliche Anarchie eine Uebergewalt,
von der man sich kaum eine Vorstellung machen kann.

Der Geistlichkeit waren, namentlich während der Pest, ungeheure Reich¬
thümer zugefallen, denn unzählige Menschen retteten in der Zeit der Todes¬
angst ihre Seligkeit durch Vermächtnisse an Kirchen, Kloster oder milde Stif¬
tungen. Dadurch versank der Stand, der berufen war Frömmigkeit und Sitt¬
lichkeit zu erhalten, in Ueppigkeit und Völlerei, und vergiftete und verwirrte
die Gewissen der unwissenden Masse, die auf die Geistlichkeit angewiesen war,
dnrch ihr Beispiel. Fürsten und Adel wetteiferten in Unwissenheit, Rohheit
und Habsucht mit einander. Dazu kamen Spaltungen in die Kirche. Intelli¬
genz und Wissenschaft hatten längst daran gearbeitet, die Säulen der Recht¬
gläubigkeit zu untergraben, sie riefen streitende Richtungen hervor, die sich gegen¬
seitig verdammten und von denen jede ihre Lehre als die zur Seligkeit unbedingt
nothwendige hinstellte, wie das aus dem allgemeinen Standpunkt folgte, wel¬
cher eine Autorität irgend welcher Art durchaus erheischte. Deu Streitenden
gemeinsam war außerdem nur die Vorstellung der Sündhaftigkeit und des
Teufels mit seinen Einwirkungen, so wie die Ueberzeugung von der Nothwen¬
digkeit eines korrekten dogmatischen Systems, dessen Annahme vor der Hölle
bewahre. Zweifel und Irrthum wurden fast allgemein als verbrecherisch hin¬
gestellt, aber jede Sekte hielt ihr Dogma für ebenso nothwendig zur Seligkeit
wie die herrschende Kirche das ihrige. So trat die Reformation ins Leben,
konzentrirte um ihre großen Männer die streitenden Massen, und bildete
Kirchen, in denen ein gemäßigter Skepticismus sich freier eutfalten, und mit
dem Geist sittlicher Ordnung verbinden konnte. Aber dieser Schritt von der


regung war. In dieser Krankheit wurden die Betroffenen von einer wilden
Tanzwuth ergriffen, der sie selbst nicht widerstehen konnten, und unter lautem
Schreckensgeschrei verkündeten sie dabei die Macht des Teufels und seinen
Sieg. Es wird bemerkt, daß die Krankheit sich besonders stark dort zeigte,
wo am meisten Fälle von Hexerei konstatirt waren, wie in den Sprengeln von
Köln und Trier. Die Heilung wurde besonders durch Exorzismus bewirkt,
und es läßt sich denken, daß die Krankheit, nach der Form ihrer Erscheinung,
vorzugsweise dem Teufel und feinen Dienern zugeschrieben wurde. Man sieht,
in welchem Grade damals die Phantasie erregt, die Seelen durch Schrecken
und Angst exaltirt waren und es wird erklärlich, daß die Idee der Hexerei
von vielen Elenden ergriffen wurde, um als Rettungsmittel aus der Pein, auch
als Mittel zur Rache und Vergeltung verwandt zu werden, während auf der
andern Seite wiederum kein Mittel für zu furchtbar galt, um der Hexerei zu
steuern, welche den Feinden derselben als die Hauptursache, uicht als die Folge
der großen Leiden erschien. Aus diesen und anderen Verhältnissen gewann im
1.5. Jahrhundert außerdem eine geistige und sittliche Anarchie eine Uebergewalt,
von der man sich kaum eine Vorstellung machen kann.

Der Geistlichkeit waren, namentlich während der Pest, ungeheure Reich¬
thümer zugefallen, denn unzählige Menschen retteten in der Zeit der Todes¬
angst ihre Seligkeit durch Vermächtnisse an Kirchen, Kloster oder milde Stif¬
tungen. Dadurch versank der Stand, der berufen war Frömmigkeit und Sitt¬
lichkeit zu erhalten, in Ueppigkeit und Völlerei, und vergiftete und verwirrte
die Gewissen der unwissenden Masse, die auf die Geistlichkeit angewiesen war,
dnrch ihr Beispiel. Fürsten und Adel wetteiferten in Unwissenheit, Rohheit
und Habsucht mit einander. Dazu kamen Spaltungen in die Kirche. Intelli¬
genz und Wissenschaft hatten längst daran gearbeitet, die Säulen der Recht¬
gläubigkeit zu untergraben, sie riefen streitende Richtungen hervor, die sich gegen¬
seitig verdammten und von denen jede ihre Lehre als die zur Seligkeit unbedingt
nothwendige hinstellte, wie das aus dem allgemeinen Standpunkt folgte, wel¬
cher eine Autorität irgend welcher Art durchaus erheischte. Deu Streitenden
gemeinsam war außerdem nur die Vorstellung der Sündhaftigkeit und des
Teufels mit seinen Einwirkungen, so wie die Ueberzeugung von der Nothwen¬
digkeit eines korrekten dogmatischen Systems, dessen Annahme vor der Hölle
bewahre. Zweifel und Irrthum wurden fast allgemein als verbrecherisch hin¬
gestellt, aber jede Sekte hielt ihr Dogma für ebenso nothwendig zur Seligkeit
wie die herrschende Kirche das ihrige. So trat die Reformation ins Leben,
konzentrirte um ihre großen Männer die streitenden Massen, und bildete
Kirchen, in denen ein gemäßigter Skepticismus sich freier eutfalten, und mit
dem Geist sittlicher Ordnung verbinden konnte. Aber dieser Schritt von der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0292" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139051"/>
          <p xml:id="ID_862" prev="#ID_861"> regung war. In dieser Krankheit wurden die Betroffenen von einer wilden<lb/>
Tanzwuth ergriffen, der sie selbst nicht widerstehen konnten, und unter lautem<lb/>
Schreckensgeschrei verkündeten sie dabei die Macht des Teufels und seinen<lb/>
Sieg. Es wird bemerkt, daß die Krankheit sich besonders stark dort zeigte,<lb/>
wo am meisten Fälle von Hexerei konstatirt waren, wie in den Sprengeln von<lb/>
Köln und Trier. Die Heilung wurde besonders durch Exorzismus bewirkt,<lb/>
und es läßt sich denken, daß die Krankheit, nach der Form ihrer Erscheinung,<lb/>
vorzugsweise dem Teufel und feinen Dienern zugeschrieben wurde. Man sieht,<lb/>
in welchem Grade damals die Phantasie erregt, die Seelen durch Schrecken<lb/>
und Angst exaltirt waren und es wird erklärlich, daß die Idee der Hexerei<lb/>
von vielen Elenden ergriffen wurde, um als Rettungsmittel aus der Pein, auch<lb/>
als Mittel zur Rache und Vergeltung verwandt zu werden, während auf der<lb/>
andern Seite wiederum kein Mittel für zu furchtbar galt, um der Hexerei zu<lb/>
steuern, welche den Feinden derselben als die Hauptursache, uicht als die Folge<lb/>
der großen Leiden erschien. Aus diesen und anderen Verhältnissen gewann im<lb/>
1.5. Jahrhundert außerdem eine geistige und sittliche Anarchie eine Uebergewalt,<lb/>
von der man sich kaum eine Vorstellung machen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_863" next="#ID_864"> Der Geistlichkeit waren, namentlich während der Pest, ungeheure Reich¬<lb/>
thümer zugefallen, denn unzählige Menschen retteten in der Zeit der Todes¬<lb/>
angst ihre Seligkeit durch Vermächtnisse an Kirchen, Kloster oder milde Stif¬<lb/>
tungen. Dadurch versank der Stand, der berufen war Frömmigkeit und Sitt¬<lb/>
lichkeit zu erhalten, in Ueppigkeit und Völlerei, und vergiftete und verwirrte<lb/>
die Gewissen der unwissenden Masse, die auf die Geistlichkeit angewiesen war,<lb/>
dnrch ihr Beispiel. Fürsten und Adel wetteiferten in Unwissenheit, Rohheit<lb/>
und Habsucht mit einander. Dazu kamen Spaltungen in die Kirche. Intelli¬<lb/>
genz und Wissenschaft hatten längst daran gearbeitet, die Säulen der Recht¬<lb/>
gläubigkeit zu untergraben, sie riefen streitende Richtungen hervor, die sich gegen¬<lb/>
seitig verdammten und von denen jede ihre Lehre als die zur Seligkeit unbedingt<lb/>
nothwendige hinstellte, wie das aus dem allgemeinen Standpunkt folgte, wel¬<lb/>
cher eine Autorität irgend welcher Art durchaus erheischte. Deu Streitenden<lb/>
gemeinsam war außerdem nur die Vorstellung der Sündhaftigkeit und des<lb/>
Teufels mit seinen Einwirkungen, so wie die Ueberzeugung von der Nothwen¬<lb/>
digkeit eines korrekten dogmatischen Systems, dessen Annahme vor der Hölle<lb/>
bewahre. Zweifel und Irrthum wurden fast allgemein als verbrecherisch hin¬<lb/>
gestellt, aber jede Sekte hielt ihr Dogma für ebenso nothwendig zur Seligkeit<lb/>
wie die herrschende Kirche das ihrige. So trat die Reformation ins Leben,<lb/>
konzentrirte um ihre großen Männer die streitenden Massen, und bildete<lb/>
Kirchen, in denen ein gemäßigter Skepticismus sich freier eutfalten, und mit<lb/>
dem Geist sittlicher Ordnung verbinden konnte. Aber dieser Schritt von der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0292] regung war. In dieser Krankheit wurden die Betroffenen von einer wilden Tanzwuth ergriffen, der sie selbst nicht widerstehen konnten, und unter lautem Schreckensgeschrei verkündeten sie dabei die Macht des Teufels und seinen Sieg. Es wird bemerkt, daß die Krankheit sich besonders stark dort zeigte, wo am meisten Fälle von Hexerei konstatirt waren, wie in den Sprengeln von Köln und Trier. Die Heilung wurde besonders durch Exorzismus bewirkt, und es läßt sich denken, daß die Krankheit, nach der Form ihrer Erscheinung, vorzugsweise dem Teufel und feinen Dienern zugeschrieben wurde. Man sieht, in welchem Grade damals die Phantasie erregt, die Seelen durch Schrecken und Angst exaltirt waren und es wird erklärlich, daß die Idee der Hexerei von vielen Elenden ergriffen wurde, um als Rettungsmittel aus der Pein, auch als Mittel zur Rache und Vergeltung verwandt zu werden, während auf der andern Seite wiederum kein Mittel für zu furchtbar galt, um der Hexerei zu steuern, welche den Feinden derselben als die Hauptursache, uicht als die Folge der großen Leiden erschien. Aus diesen und anderen Verhältnissen gewann im 1.5. Jahrhundert außerdem eine geistige und sittliche Anarchie eine Uebergewalt, von der man sich kaum eine Vorstellung machen kann. Der Geistlichkeit waren, namentlich während der Pest, ungeheure Reich¬ thümer zugefallen, denn unzählige Menschen retteten in der Zeit der Todes¬ angst ihre Seligkeit durch Vermächtnisse an Kirchen, Kloster oder milde Stif¬ tungen. Dadurch versank der Stand, der berufen war Frömmigkeit und Sitt¬ lichkeit zu erhalten, in Ueppigkeit und Völlerei, und vergiftete und verwirrte die Gewissen der unwissenden Masse, die auf die Geistlichkeit angewiesen war, dnrch ihr Beispiel. Fürsten und Adel wetteiferten in Unwissenheit, Rohheit und Habsucht mit einander. Dazu kamen Spaltungen in die Kirche. Intelli¬ genz und Wissenschaft hatten längst daran gearbeitet, die Säulen der Recht¬ gläubigkeit zu untergraben, sie riefen streitende Richtungen hervor, die sich gegen¬ seitig verdammten und von denen jede ihre Lehre als die zur Seligkeit unbedingt nothwendige hinstellte, wie das aus dem allgemeinen Standpunkt folgte, wel¬ cher eine Autorität irgend welcher Art durchaus erheischte. Deu Streitenden gemeinsam war außerdem nur die Vorstellung der Sündhaftigkeit und des Teufels mit seinen Einwirkungen, so wie die Ueberzeugung von der Nothwen¬ digkeit eines korrekten dogmatischen Systems, dessen Annahme vor der Hölle bewahre. Zweifel und Irrthum wurden fast allgemein als verbrecherisch hin¬ gestellt, aber jede Sekte hielt ihr Dogma für ebenso nothwendig zur Seligkeit wie die herrschende Kirche das ihrige. So trat die Reformation ins Leben, konzentrirte um ihre großen Männer die streitenden Massen, und bildete Kirchen, in denen ein gemäßigter Skepticismus sich freier eutfalten, und mit dem Geist sittlicher Ordnung verbinden konnte. Aber dieser Schritt von der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/292
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/292>, abgerufen am 19.10.2024.