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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Am vergleichenden Kei'igionsgeschichte.

Die Richtung unserer Zeit auf das in der Erfahrung gegebene, das Be¬
dürfniß, alle Spekulation auf den Ertrag der Beobachtung zu begründen und
an ihm zu prüfen, zeigt sich auch auf dem Gebiete der allgemeinen Religions¬
wissenschaft. Wir fragen nicht mehr, wie mußte sich die Entwicklung des
religiösen Lebens gestalten auf Grund der Beschaffenheit der ursprünglichen,
bald so, bald so gedachten menschlichen Natur, sondern vielmehr, welchen Ent¬
wicklungsgang hat thatsächlich das religiöse Leben genommen. Wir suchen auf
geschichtlichem Wege die Gestaltung und die Gesetze desselben zu erkennen.

Die Aufgabe, die hier gelöst werden muß, ist eine ebenso umfangreiche
wie schwierige; theils ist das Material überreich, theils ist es lückenhaft. Wie
viele Völkerstämme müssen zum Gegenstand eingehender Forschungen gemacht
werden, und doch ist es bei vielen derselben nicht mehr möglich, die Wandlun¬
gen der religiösen Vorstellungen und die Einflüsse, unter denen sie stattgefunden
haben, aufzuweisen; bei nicht wenigen Anschauungen endlich bleiben wir im
Zweifel, ob sie das Eigenthum eines größeren Ganzen, eines kleineren Kreises
oder auch nur einer einzelnen Persönlichkeit waren. So sind denn Besonnen¬
heit, Vorsicht, Zurückhaltung Tugenden, ohne welche die Arbeit auf diesem
Felde keinen befriedigenden Erfolg erzielen kann.

Es ist die Absicht dieses Aufsatzes, auf eine Schrift aufmerksam und mit
ihr bekannt zu machen, die von diesem Geiste erfüllt ist, und die wir daher
als einen werthvollen Beitrag zur vergleichenden Religionsgeschichte begrüßen.
Sie verdient unsere Anerkennung auch insofern, als sie durch großen Fleiß,
durch religiöse Wärme und durch Frische der Darstellung sich auszeichnet.

Das Werk von Edmund Spieß: "Entwickelungsgeschichte der Vorstel¬
lungen vom Zustande nach dem Tode"*) hat einen Bestandtheil der religiösen



*) Jena, Hermann CostenMe, 1877. S. 61S.
Grenzboten IV. 1377.31
Am vergleichenden Kei'igionsgeschichte.

Die Richtung unserer Zeit auf das in der Erfahrung gegebene, das Be¬
dürfniß, alle Spekulation auf den Ertrag der Beobachtung zu begründen und
an ihm zu prüfen, zeigt sich auch auf dem Gebiete der allgemeinen Religions¬
wissenschaft. Wir fragen nicht mehr, wie mußte sich die Entwicklung des
religiösen Lebens gestalten auf Grund der Beschaffenheit der ursprünglichen,
bald so, bald so gedachten menschlichen Natur, sondern vielmehr, welchen Ent¬
wicklungsgang hat thatsächlich das religiöse Leben genommen. Wir suchen auf
geschichtlichem Wege die Gestaltung und die Gesetze desselben zu erkennen.

Die Aufgabe, die hier gelöst werden muß, ist eine ebenso umfangreiche
wie schwierige; theils ist das Material überreich, theils ist es lückenhaft. Wie
viele Völkerstämme müssen zum Gegenstand eingehender Forschungen gemacht
werden, und doch ist es bei vielen derselben nicht mehr möglich, die Wandlun¬
gen der religiösen Vorstellungen und die Einflüsse, unter denen sie stattgefunden
haben, aufzuweisen; bei nicht wenigen Anschauungen endlich bleiben wir im
Zweifel, ob sie das Eigenthum eines größeren Ganzen, eines kleineren Kreises
oder auch nur einer einzelnen Persönlichkeit waren. So sind denn Besonnen¬
heit, Vorsicht, Zurückhaltung Tugenden, ohne welche die Arbeit auf diesem
Felde keinen befriedigenden Erfolg erzielen kann.

Es ist die Absicht dieses Aufsatzes, auf eine Schrift aufmerksam und mit
ihr bekannt zu machen, die von diesem Geiste erfüllt ist, und die wir daher
als einen werthvollen Beitrag zur vergleichenden Religionsgeschichte begrüßen.
Sie verdient unsere Anerkennung auch insofern, als sie durch großen Fleiß,
durch religiöse Wärme und durch Frische der Darstellung sich auszeichnet.

Das Werk von Edmund Spieß: „Entwickelungsgeschichte der Vorstel¬
lungen vom Zustande nach dem Tode"*) hat einen Bestandtheil der religiösen



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[0245] Am vergleichenden Kei'igionsgeschichte. Die Richtung unserer Zeit auf das in der Erfahrung gegebene, das Be¬ dürfniß, alle Spekulation auf den Ertrag der Beobachtung zu begründen und an ihm zu prüfen, zeigt sich auch auf dem Gebiete der allgemeinen Religions¬ wissenschaft. Wir fragen nicht mehr, wie mußte sich die Entwicklung des religiösen Lebens gestalten auf Grund der Beschaffenheit der ursprünglichen, bald so, bald so gedachten menschlichen Natur, sondern vielmehr, welchen Ent¬ wicklungsgang hat thatsächlich das religiöse Leben genommen. Wir suchen auf geschichtlichem Wege die Gestaltung und die Gesetze desselben zu erkennen. Die Aufgabe, die hier gelöst werden muß, ist eine ebenso umfangreiche wie schwierige; theils ist das Material überreich, theils ist es lückenhaft. Wie viele Völkerstämme müssen zum Gegenstand eingehender Forschungen gemacht werden, und doch ist es bei vielen derselben nicht mehr möglich, die Wandlun¬ gen der religiösen Vorstellungen und die Einflüsse, unter denen sie stattgefunden haben, aufzuweisen; bei nicht wenigen Anschauungen endlich bleiben wir im Zweifel, ob sie das Eigenthum eines größeren Ganzen, eines kleineren Kreises oder auch nur einer einzelnen Persönlichkeit waren. So sind denn Besonnen¬ heit, Vorsicht, Zurückhaltung Tugenden, ohne welche die Arbeit auf diesem Felde keinen befriedigenden Erfolg erzielen kann. Es ist die Absicht dieses Aufsatzes, auf eine Schrift aufmerksam und mit ihr bekannt zu machen, die von diesem Geiste erfüllt ist, und die wir daher als einen werthvollen Beitrag zur vergleichenden Religionsgeschichte begrüßen. Sie verdient unsere Anerkennung auch insofern, als sie durch großen Fleiß, durch religiöse Wärme und durch Frische der Darstellung sich auszeichnet. Das Werk von Edmund Spieß: „Entwickelungsgeschichte der Vorstel¬ lungen vom Zustande nach dem Tode"*) hat einen Bestandtheil der religiösen *) Jena, Hermann CostenMe, 1877. S. 61S. Grenzboten IV. 1377.31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/245>, abgerufen am 22.07.2024.