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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Bekommt ein Kind seine Zähne schwer, so sammelt die Mutter zwanzig Keller¬
asseln, zerstampft sie in einem Mörser und preßt den Saft durch ein Tuch,
der dem Kinde denn in Fleischbrühe jeden Tag zwischen nenn und zehn und
zwischen vier und fünf Uhr löffelweise eingeflößt wird. Hat es einen Bruch,
so wird derselbe damit zu heilen versucht, daß man im Mai vier Maulwürfe
säugt, deren Magen in Wein siedet, trocknet und zu Pulver zerstampft, von
dem man dem Kinde alle Morgen etwas eingibt. Hat das Kind die Mund¬
fäule, so muß der Vater ihm jeden Morgen nüchtern dreimal in den Mund
hauchen und dann -- man sieht, der Aberglaube erfindet für seinen Zauber
recht barocke und vollkommen unerklärliche Dinge -- sieben Holzwanzen zum
Verdorren in den Schornstein hängen. Hat es "verdorbenes Geblüt", so
bäckt man ihm Aronskraut (das mit seinem in die Blätter gewickelten Blumen
wie ein Kind in den Windeln erschienen sein mag) in einen Kuchen, den es
dann essen muß. Wird ein Kind, während es sein Abcbuch studirt, von Leib¬
weh befallen, so muß es das eben Gelesene schnell rückwärts lesen. Hat es
den "fressenden Rätticher", d. h. Zehrfieber mit Heißhunger, so läßt man es
ans dein Geschirr eines Kreuzschnabels trinken, oder man füllt zwei Nußschalen
mit ungesalzenen Mehlbrei und bindet sie dem kleinen Patienten vor Sonnen-
aufgang auf das "Bluttmuseli", d. h. auf die bloße Herzgrube.

Schwäbischer Aberglaube dieser Art ist folgender: Wenn man einer leben¬
digen Mans den Kopf abreißt und diesen, ohne einen Knoten in den Faden
zu machen, also nur mit einer Schleife, einem Kinde um den Hals hängt, so
wird diesem das Zahnen erleichtert. Schneidet man einer ganz schwarzen Katze
ein Loch ins Ohr und läßt man drei Tropfen von ihrem Blute auf ein Stück
Brod laufen, welches man darauf verzehrt, so vertreibt dies das Fieber. Gegen
Verrenkung der Hand hilft ein aus der Mühle gestohlenes Saalband. Krätzige
sollen sich mit dem Wasser waschen, in welchem der Schmied glühendes Eisen
gelöscht hat. Die "Roßmucken" vergehen, wenn sie ein paar Mal mit Thau
befeuchtet werden, der von Roggenähren abgestreift worden ist. Warzen schafft
man dadurch hinweg, daß man sich eine rothe Schnecke sucht, die Warze bannt
bestreicht und hiernach die Schnecke auf einen Weißdorn spießt. Wie sie hier
vertrocknet, so vergeht auch die Warze. Die Schwindsucht wird dadurch ge¬
heilt, das die Angehörigen des Kranken Kohlen vom Johannisfeuer (einem
Reste des sich in der Heidenzeit an die sommerliche Sonnenwende knüpfenden
Kultus) sammeln und zu Pulver zerstoßen, dieses in Wasser schütten und es
ihm eine Zeit lang jeden Tag in kleinen Portionen eingeben.

In Thüringen soll man sich am Tage der Siebenschläfer (10. Juli) nach
den: Aufgange des Hundssterns (so heißt der Sirius, der hellste aller Fixsterne)
Eisenkraut holen; denn das vertreibt alle Kopfschmerzen. Desgleichen soll man


Bekommt ein Kind seine Zähne schwer, so sammelt die Mutter zwanzig Keller¬
asseln, zerstampft sie in einem Mörser und preßt den Saft durch ein Tuch,
der dem Kinde denn in Fleischbrühe jeden Tag zwischen nenn und zehn und
zwischen vier und fünf Uhr löffelweise eingeflößt wird. Hat es einen Bruch,
so wird derselbe damit zu heilen versucht, daß man im Mai vier Maulwürfe
säugt, deren Magen in Wein siedet, trocknet und zu Pulver zerstampft, von
dem man dem Kinde alle Morgen etwas eingibt. Hat das Kind die Mund¬
fäule, so muß der Vater ihm jeden Morgen nüchtern dreimal in den Mund
hauchen und dann — man sieht, der Aberglaube erfindet für seinen Zauber
recht barocke und vollkommen unerklärliche Dinge — sieben Holzwanzen zum
Verdorren in den Schornstein hängen. Hat es „verdorbenes Geblüt", so
bäckt man ihm Aronskraut (das mit seinem in die Blätter gewickelten Blumen
wie ein Kind in den Windeln erschienen sein mag) in einen Kuchen, den es
dann essen muß. Wird ein Kind, während es sein Abcbuch studirt, von Leib¬
weh befallen, so muß es das eben Gelesene schnell rückwärts lesen. Hat es
den „fressenden Rätticher", d. h. Zehrfieber mit Heißhunger, so läßt man es
ans dein Geschirr eines Kreuzschnabels trinken, oder man füllt zwei Nußschalen
mit ungesalzenen Mehlbrei und bindet sie dem kleinen Patienten vor Sonnen-
aufgang auf das „Bluttmuseli", d. h. auf die bloße Herzgrube.

Schwäbischer Aberglaube dieser Art ist folgender: Wenn man einer leben¬
digen Mans den Kopf abreißt und diesen, ohne einen Knoten in den Faden
zu machen, also nur mit einer Schleife, einem Kinde um den Hals hängt, so
wird diesem das Zahnen erleichtert. Schneidet man einer ganz schwarzen Katze
ein Loch ins Ohr und läßt man drei Tropfen von ihrem Blute auf ein Stück
Brod laufen, welches man darauf verzehrt, so vertreibt dies das Fieber. Gegen
Verrenkung der Hand hilft ein aus der Mühle gestohlenes Saalband. Krätzige
sollen sich mit dem Wasser waschen, in welchem der Schmied glühendes Eisen
gelöscht hat. Die „Roßmucken" vergehen, wenn sie ein paar Mal mit Thau
befeuchtet werden, der von Roggenähren abgestreift worden ist. Warzen schafft
man dadurch hinweg, daß man sich eine rothe Schnecke sucht, die Warze bannt
bestreicht und hiernach die Schnecke auf einen Weißdorn spießt. Wie sie hier
vertrocknet, so vergeht auch die Warze. Die Schwindsucht wird dadurch ge¬
heilt, das die Angehörigen des Kranken Kohlen vom Johannisfeuer (einem
Reste des sich in der Heidenzeit an die sommerliche Sonnenwende knüpfenden
Kultus) sammeln und zu Pulver zerstoßen, dieses in Wasser schütten und es
ihm eine Zeit lang jeden Tag in kleinen Portionen eingeben.

In Thüringen soll man sich am Tage der Siebenschläfer (10. Juli) nach
den: Aufgange des Hundssterns (so heißt der Sirius, der hellste aller Fixsterne)
Eisenkraut holen; denn das vertreibt alle Kopfschmerzen. Desgleichen soll man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/146>, abgerufen am 22.07.2024.