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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Verzeichniß seiner im Druck erschienenen Kompositionen gegeben, in welchem
namentlich eine längere Reihe von "Tougemäldeu" und "Opernpossen", die
meist in den fünfziger Jahren und zum Theil als Gelegenheitskvmpositiouctt
zu Festlichkeiten Dresdner Gesangvereine entstanden sind, einen breiten
Raum einnimmt; hierher gehören: "Im Walde", "Am Meeresstrande", "Die
Nacht", "Die Mordgruudbrücke", "Die Liedertafel in China" u. a. Am
Schlüsse fügt er dann in einer kleinen Anmerkung summarisch hinzu, daß er
auch Lieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung, Roudos und Ron-
dinos, die "Gesellenfahrten", das "treue deutsche Herz", die "Burschenfahrten",
Kantaten und Motetten, Psalmen und Hymnen u. a. geschrieben habe, und
stellt so in merkwürdiger Selbstverkennung Werke, denen er doch seine Popu¬
larität verdankte, und an die man vor allen Dingen denkt, wenn man den
Namen Julius Otto hört, als unwichtiges Anhängsel hin zu solchen, die rasch
vorübergegangen und ans enge Kreise beschränkt geblieben sind. Es ist, als
ob er, weil seine populären Sachen schließlich in Vergessenheit gerathen waren,
selber an ihnen irre geworden und dazu verleitet worden sei, seine Bedeutung
auf einem Gebiete zu suchen, wo sie in Wahrheit gar nicht lag.

Otto's Muse trug nicht gerade ausgeprägt individuelle Züge. Wenn etwas
ureigenthümliches in seiner Art gewesen wäre, so wäre es ja unmöglich ge¬
wesen, daß er eines seiner Geisteskinder nicht sofort wiedererkannt hätte. Seine
Musik muthet uns oft mehr italienisch als deutsch an, hie und da hat sie mich
an Rossini erinnert. In der früheren Zeit blickt Weber manchmal durch,
später Mendelssohn, noch später sogar Schumann. Immer ist sie heiter, leicht,
graziös, seiue Kirchenmusik mehr weltlich als geistlich, und wo sie innige Em¬
pfindung zum Ausdruck bringen will, leicht etwas süßlich, aber jederzeit form¬
gewandt, abgerundet, von sicherster Faktur, immer geworden und gewachsen,
nie gesucht und gequält, immer in hohen: Grade sangbar -- die menschliche
Stimme haben wenige so verstündig zu behandeln und zu benutzen gewußt
wie er -- kurz: durch und durch musikalisch. Otto war entschieden ein echtes
Talent. Bei der Leichtigkeit seiner Produktion ist natürlich anch viel leichte
Waare mit untergelaufen, aber das meiste erhebt sich doch über jenen fatalen
Durchschuitt, den man mit einem treffenden Ausdruck als "Kantoren- und Ka-
pellmeistermnsik" bezeichnet. Und eines ist ihm hoch anzurechnen: nie hat er
seine Begabung, wie die "vornehmen Bänkelsänger" unserer Tage, in den
Dienst ordinärer Spekulation gestellt. Für das Volk und für die Jugend
ist seine Musik wie geschaffen. Die leichten, vierhändigen Roudos, die er
geschrieben, gehören zu unserer besten Hansmusik sür die Kinderwelt und ver¬
dienen noch nicht gleich vergessen zu werden, und an seinen Kinderoratorien
-- "Das Schulfest", "Das Weihnachtsfest", "Das Pfingstfest" -- wird Jung


Verzeichniß seiner im Druck erschienenen Kompositionen gegeben, in welchem
namentlich eine längere Reihe von „Tougemäldeu" und „Opernpossen", die
meist in den fünfziger Jahren und zum Theil als Gelegenheitskvmpositiouctt
zu Festlichkeiten Dresdner Gesangvereine entstanden sind, einen breiten
Raum einnimmt; hierher gehören: „Im Walde", „Am Meeresstrande", „Die
Nacht", „Die Mordgruudbrücke", „Die Liedertafel in China" u. a. Am
Schlüsse fügt er dann in einer kleinen Anmerkung summarisch hinzu, daß er
auch Lieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung, Roudos und Ron-
dinos, die „Gesellenfahrten", das „treue deutsche Herz", die „Burschenfahrten",
Kantaten und Motetten, Psalmen und Hymnen u. a. geschrieben habe, und
stellt so in merkwürdiger Selbstverkennung Werke, denen er doch seine Popu¬
larität verdankte, und an die man vor allen Dingen denkt, wenn man den
Namen Julius Otto hört, als unwichtiges Anhängsel hin zu solchen, die rasch
vorübergegangen und ans enge Kreise beschränkt geblieben sind. Es ist, als
ob er, weil seine populären Sachen schließlich in Vergessenheit gerathen waren,
selber an ihnen irre geworden und dazu verleitet worden sei, seine Bedeutung
auf einem Gebiete zu suchen, wo sie in Wahrheit gar nicht lag.

Otto's Muse trug nicht gerade ausgeprägt individuelle Züge. Wenn etwas
ureigenthümliches in seiner Art gewesen wäre, so wäre es ja unmöglich ge¬
wesen, daß er eines seiner Geisteskinder nicht sofort wiedererkannt hätte. Seine
Musik muthet uns oft mehr italienisch als deutsch an, hie und da hat sie mich
an Rossini erinnert. In der früheren Zeit blickt Weber manchmal durch,
später Mendelssohn, noch später sogar Schumann. Immer ist sie heiter, leicht,
graziös, seiue Kirchenmusik mehr weltlich als geistlich, und wo sie innige Em¬
pfindung zum Ausdruck bringen will, leicht etwas süßlich, aber jederzeit form¬
gewandt, abgerundet, von sicherster Faktur, immer geworden und gewachsen,
nie gesucht und gequält, immer in hohen: Grade sangbar — die menschliche
Stimme haben wenige so verstündig zu behandeln und zu benutzen gewußt
wie er — kurz: durch und durch musikalisch. Otto war entschieden ein echtes
Talent. Bei der Leichtigkeit seiner Produktion ist natürlich anch viel leichte
Waare mit untergelaufen, aber das meiste erhebt sich doch über jenen fatalen
Durchschuitt, den man mit einem treffenden Ausdruck als „Kantoren- und Ka-
pellmeistermnsik" bezeichnet. Und eines ist ihm hoch anzurechnen: nie hat er
seine Begabung, wie die „vornehmen Bänkelsänger" unserer Tage, in den
Dienst ordinärer Spekulation gestellt. Für das Volk und für die Jugend
ist seine Musik wie geschaffen. Die leichten, vierhändigen Roudos, die er
geschrieben, gehören zu unserer besten Hansmusik sür die Kinderwelt und ver¬
dienen noch nicht gleich vergessen zu werden, und an seinen Kinderoratorien
— „Das Schulfest", „Das Weihnachtsfest", „Das Pfingstfest" — wird Jung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/80>, abgerufen am 28.09.2024.