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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Kirchenmusik, so wurde auch die auszuführende Kantate, oder was es sonst war,
in der Donnerstagsprobe vom Kantor mit repeiirt -- denn auch hier war
das Repertoire höchstens für die neu Eingetretenenen etwas neues --, Sonn¬
abends war dann noch eine kurze "Musikprobe" in der Kirche, und Sonntags
klappte alles aufs beste. Dabei waren die Präfekten keineswegs immer die
musikalisch tüchtigsten unter den älteren Schülern, sondern die beiden obersten
Primaner des "Alumnenms" rückten stets <?o ipso in dieses Amt ein, sie
mochten so viel oder so wenig leisten wie sie wollten. Es hätte eben der
erste beste hintreten, eine Motette aufschlagen lassen und sagen können:
"Jungen, wenn ich mit der Hand niederschlage, so fangt ihr an", wir hätten
unser Stücklein, glaube ich, eben so gut heruutergefnngen wie unter der
Leitung eines solchen "Präfekten". Die Theilnahme des Publikums für die
Sonnabendsvespern war freilich damals eine äußerst geringe, und ich glaube
mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß dieser Rückgang -- denn als
solcher wurde er von ültereu Leuten empfunden -- nicht die Ursache, sondern
die Wirkung von dem Maugel an Abwechslung in unserem Repertoire war.
Wenn damals vierzig bis fünfzig Personen in der Kirche waren, so war das
viel; meist waren es alte Jnventarienstücke, darunter betagte Mütterchen, die
den Handkorb mit zur Kirche brachten, welche damals unser regelmäßiges
Publikum bildeten. Nicht ohne Staunen und Neid hörten wir von älteren
Alumnen, die von der Leipziger Universität in deu Ferien zu Besuch kamen,
welch ein zahlreiches, begeistertes Publikum der Thomanerchor in Leipzig bei
seinen Sonnabendsaufführnngen um sich versäumte.

Ein frischer Zug kam in die Sache, als ein beherzterer Prüfekt einmal
ans eigne Faust anfing, Abwechslung in das Einerlei uuserer Programme zu
bringen. Otto hatte ihn gewürdigt, seinem eignen Stiefsohn Musikunterricht
zu geben; er verkehrte daher viel im Hause des Kantors, durchstöberte dessen
musikalische Schätze und fand dabei eine Menge altes und neues, was er gar
gern einmal hätte fingen lassen. Eins oder das andere davon brachte er
schließlich aus die Seite, schaffte Notenpapier an, schrieb selbst die Stimmen
aus, ließ von uns welche ausschreiben, vermehrte, was uns anfangs gar nicht
behagen wollte, die Siugestundeu, setzte sogar des Abends Uebungen an, und
so wurden heimlich die Neuigkeiten einstudirt, um dann den Kantor damit zN
überraschen. Ich erinnere mich noch deutlich, wie Otto eines Donnerstags
erschien, und der Präfekt ihm freudestrahlend, wenn auch mit Bangigkeit sagte,
daß wir ihm heute die Motette von Christoph Bach: "Ich lasse dich nicht,
dn segnest mich denn" vorsingen wollten. "Sie sind wohl nicht bei Troste?
fuhr der Kantor ihn an, und er hatte ein Recht dazu, sich möglichst ungläubig
zu verhalten, hatten wir doch -- das gehörte freilich auch zu den "Trad?-


Kirchenmusik, so wurde auch die auszuführende Kantate, oder was es sonst war,
in der Donnerstagsprobe vom Kantor mit repeiirt — denn auch hier war
das Repertoire höchstens für die neu Eingetretenenen etwas neues —, Sonn¬
abends war dann noch eine kurze „Musikprobe" in der Kirche, und Sonntags
klappte alles aufs beste. Dabei waren die Präfekten keineswegs immer die
musikalisch tüchtigsten unter den älteren Schülern, sondern die beiden obersten
Primaner des „Alumnenms" rückten stets <?o ipso in dieses Amt ein, sie
mochten so viel oder so wenig leisten wie sie wollten. Es hätte eben der
erste beste hintreten, eine Motette aufschlagen lassen und sagen können:
„Jungen, wenn ich mit der Hand niederschlage, so fangt ihr an", wir hätten
unser Stücklein, glaube ich, eben so gut heruutergefnngen wie unter der
Leitung eines solchen „Präfekten". Die Theilnahme des Publikums für die
Sonnabendsvespern war freilich damals eine äußerst geringe, und ich glaube
mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß dieser Rückgang — denn als
solcher wurde er von ültereu Leuten empfunden — nicht die Ursache, sondern
die Wirkung von dem Maugel an Abwechslung in unserem Repertoire war.
Wenn damals vierzig bis fünfzig Personen in der Kirche waren, so war das
viel; meist waren es alte Jnventarienstücke, darunter betagte Mütterchen, die
den Handkorb mit zur Kirche brachten, welche damals unser regelmäßiges
Publikum bildeten. Nicht ohne Staunen und Neid hörten wir von älteren
Alumnen, die von der Leipziger Universität in deu Ferien zu Besuch kamen,
welch ein zahlreiches, begeistertes Publikum der Thomanerchor in Leipzig bei
seinen Sonnabendsaufführnngen um sich versäumte.

Ein frischer Zug kam in die Sache, als ein beherzterer Prüfekt einmal
ans eigne Faust anfing, Abwechslung in das Einerlei uuserer Programme zu
bringen. Otto hatte ihn gewürdigt, seinem eignen Stiefsohn Musikunterricht
zu geben; er verkehrte daher viel im Hause des Kantors, durchstöberte dessen
musikalische Schätze und fand dabei eine Menge altes und neues, was er gar
gern einmal hätte fingen lassen. Eins oder das andere davon brachte er
schließlich aus die Seite, schaffte Notenpapier an, schrieb selbst die Stimmen
aus, ließ von uns welche ausschreiben, vermehrte, was uns anfangs gar nicht
behagen wollte, die Siugestundeu, setzte sogar des Abends Uebungen an, und
so wurden heimlich die Neuigkeiten einstudirt, um dann den Kantor damit zN
überraschen. Ich erinnere mich noch deutlich, wie Otto eines Donnerstags
erschien, und der Präfekt ihm freudestrahlend, wenn auch mit Bangigkeit sagte,
daß wir ihm heute die Motette von Christoph Bach: „Ich lasse dich nicht,
dn segnest mich denn" vorsingen wollten. „Sie sind wohl nicht bei Troste?
fuhr der Kantor ihn an, und er hatte ein Recht dazu, sich möglichst ungläubig
zu verhalten, hatten wir doch — das gehörte freilich auch zu den „Trad?-


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[0078] Kirchenmusik, so wurde auch die auszuführende Kantate, oder was es sonst war, in der Donnerstagsprobe vom Kantor mit repeiirt — denn auch hier war das Repertoire höchstens für die neu Eingetretenenen etwas neues —, Sonn¬ abends war dann noch eine kurze „Musikprobe" in der Kirche, und Sonntags klappte alles aufs beste. Dabei waren die Präfekten keineswegs immer die musikalisch tüchtigsten unter den älteren Schülern, sondern die beiden obersten Primaner des „Alumnenms" rückten stets <?o ipso in dieses Amt ein, sie mochten so viel oder so wenig leisten wie sie wollten. Es hätte eben der erste beste hintreten, eine Motette aufschlagen lassen und sagen können: „Jungen, wenn ich mit der Hand niederschlage, so fangt ihr an", wir hätten unser Stücklein, glaube ich, eben so gut heruutergefnngen wie unter der Leitung eines solchen „Präfekten". Die Theilnahme des Publikums für die Sonnabendsvespern war freilich damals eine äußerst geringe, und ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß dieser Rückgang — denn als solcher wurde er von ültereu Leuten empfunden — nicht die Ursache, sondern die Wirkung von dem Maugel an Abwechslung in unserem Repertoire war. Wenn damals vierzig bis fünfzig Personen in der Kirche waren, so war das viel; meist waren es alte Jnventarienstücke, darunter betagte Mütterchen, die den Handkorb mit zur Kirche brachten, welche damals unser regelmäßiges Publikum bildeten. Nicht ohne Staunen und Neid hörten wir von älteren Alumnen, die von der Leipziger Universität in deu Ferien zu Besuch kamen, welch ein zahlreiches, begeistertes Publikum der Thomanerchor in Leipzig bei seinen Sonnabendsaufführnngen um sich versäumte. Ein frischer Zug kam in die Sache, als ein beherzterer Prüfekt einmal ans eigne Faust anfing, Abwechslung in das Einerlei uuserer Programme zu bringen. Otto hatte ihn gewürdigt, seinem eignen Stiefsohn Musikunterricht zu geben; er verkehrte daher viel im Hause des Kantors, durchstöberte dessen musikalische Schätze und fand dabei eine Menge altes und neues, was er gar gern einmal hätte fingen lassen. Eins oder das andere davon brachte er schließlich aus die Seite, schaffte Notenpapier an, schrieb selbst die Stimmen aus, ließ von uns welche ausschreiben, vermehrte, was uns anfangs gar nicht behagen wollte, die Siugestundeu, setzte sogar des Abends Uebungen an, und so wurden heimlich die Neuigkeiten einstudirt, um dann den Kantor damit zN überraschen. Ich erinnere mich noch deutlich, wie Otto eines Donnerstags erschien, und der Präfekt ihm freudestrahlend, wenn auch mit Bangigkeit sagte, daß wir ihm heute die Motette von Christoph Bach: „Ich lasse dich nicht, dn segnest mich denn" vorsingen wollten. „Sie sind wohl nicht bei Troste? fuhr der Kantor ihn an, und er hatte ein Recht dazu, sich möglichst ungläubig zu verhalten, hatten wir doch — das gehörte freilich auch zu den „Trad?-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/78>, abgerufen am 29.06.2024.