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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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fassung der Lage nicht nur, er war vielmehr durch die jüngsten Nachrichten
aus Rußland (Schlacht bei Borodino, Einzug in Moskau) nur noch in ihr
bestärkt worden, hielt namentlich ein Beharren Kaiser Alexanders in seinem
Widerstande für ganz undenkbar. Aus diesem Grunde lag sür ihn ein An¬
schluß an Rußland ganz außer dem Bereiche der Möglichkeit, und indem er
Hardenbergs Anerbieten annahm, ging er einen Schritt weiter und betonte die
Vermittlung eines allgemeinen Friedens durch Oesterreich und Preußen als
das einzige Mittel zur Rettung ans der gegenwärtigen Zwangslage (Schreiben
vom 5. Oktober)"').

Damit trat der Gedanke der Friedensvermittelung durch Oesterreich zum
ersten Male hervor. Auch die Kunde von dem Brande, dann von der Räumung
Moskaus (1,8., 19. Oktober) änderte sein Urtheil über die Lage nicht**). Anders
Hardenberg. Die Katastrophe der Zarenstadt erschien ihm als der Anfang einer
neuen, energischen Kriegführung der Russen, und er sah sich in dieser Ansicht be¬
stärkt durch einen Brief des Grafen Lieven, früheren russischen Gesandten in Berlin,
der im Auftrage des Zaren versicherte, derselbe sei unbedingt entschlossen zur
Fortsetzung des Kampfes für die Behauptung seiner eignen Unabhängigkeit
und fordere Preußen und Oesterreich, deren Selbständigkeit für Rußland noth¬
wendig sei, zum Abfalle von Frankreich auf (vom 2. Oktober)***). Dieser Auf¬
forderung gegenüber beobachtete die königliche Regierung wie natürlich zunächst
Zwar eine durchaus reservirte Haltung: sie ließ Lieven wissen, ohne Oester¬
reich könne sie nichts unternehmen, werde aber mit ihm nicht zögern das
System zu wechseln f). Doch wagte sie jetzt, die französische Forderung, für
die zur Hauptarmee gezogenen zwei Reiterregimenter zwei andere zu stellen
und außerdem noch sechstausend Mann Infanterie und tausend Pferde gegen
Riga zu entsenden, mit dem Hinweis auf die finanzielle Erschöpfung des Landes
abzulehnen; nur die Reserven für jene beiden Kavallerieregimenter sollten sich
in Graudenz sammeln-fs). Es war die erste kleine Regung eines selbständigen
Willens, die erste Frucht des österreichisch-preußischen Einverständnisses.

Noch kühler hatte inzwischen der Wiener Hof geheime russische Aner-







wordcn ist. Häuszcr konnte nur die Berichte Humboldts benutzen, der in die geheime Korrespon¬
denz nicht eingeweiht war. Er beurtheilt also Metternichs Politik zu ungünstig.
*
) Oncken 15 ff.
**) Oncken 20. Duncker 449 f.
Oncken 23 ff.
f) Oncken 27. Duncker 449 f.
ff) Diese Forderung richtete am 4. November der Herzog v. Bassano, Minister des Aus¬
wärtigen, an den preußischen Vertreter v. Krusemark in Wilna, dem Sammelplätze aller
Diplomaten während des Feldzuges, dann nochmals der französische Gesandte Se. Marsan
direkt an Hardenberg. Duncker 448 ff.

fassung der Lage nicht nur, er war vielmehr durch die jüngsten Nachrichten
aus Rußland (Schlacht bei Borodino, Einzug in Moskau) nur noch in ihr
bestärkt worden, hielt namentlich ein Beharren Kaiser Alexanders in seinem
Widerstande für ganz undenkbar. Aus diesem Grunde lag sür ihn ein An¬
schluß an Rußland ganz außer dem Bereiche der Möglichkeit, und indem er
Hardenbergs Anerbieten annahm, ging er einen Schritt weiter und betonte die
Vermittlung eines allgemeinen Friedens durch Oesterreich und Preußen als
das einzige Mittel zur Rettung ans der gegenwärtigen Zwangslage (Schreiben
vom 5. Oktober)"').

Damit trat der Gedanke der Friedensvermittelung durch Oesterreich zum
ersten Male hervor. Auch die Kunde von dem Brande, dann von der Räumung
Moskaus (1,8., 19. Oktober) änderte sein Urtheil über die Lage nicht**). Anders
Hardenberg. Die Katastrophe der Zarenstadt erschien ihm als der Anfang einer
neuen, energischen Kriegführung der Russen, und er sah sich in dieser Ansicht be¬
stärkt durch einen Brief des Grafen Lieven, früheren russischen Gesandten in Berlin,
der im Auftrage des Zaren versicherte, derselbe sei unbedingt entschlossen zur
Fortsetzung des Kampfes für die Behauptung seiner eignen Unabhängigkeit
und fordere Preußen und Oesterreich, deren Selbständigkeit für Rußland noth¬
wendig sei, zum Abfalle von Frankreich auf (vom 2. Oktober)***). Dieser Auf¬
forderung gegenüber beobachtete die königliche Regierung wie natürlich zunächst
Zwar eine durchaus reservirte Haltung: sie ließ Lieven wissen, ohne Oester¬
reich könne sie nichts unternehmen, werde aber mit ihm nicht zögern das
System zu wechseln f). Doch wagte sie jetzt, die französische Forderung, für
die zur Hauptarmee gezogenen zwei Reiterregimenter zwei andere zu stellen
und außerdem noch sechstausend Mann Infanterie und tausend Pferde gegen
Riga zu entsenden, mit dem Hinweis auf die finanzielle Erschöpfung des Landes
abzulehnen; nur die Reserven für jene beiden Kavallerieregimenter sollten sich
in Graudenz sammeln-fs). Es war die erste kleine Regung eines selbständigen
Willens, die erste Frucht des österreichisch-preußischen Einverständnisses.

Noch kühler hatte inzwischen der Wiener Hof geheime russische Aner-







wordcn ist. Häuszcr konnte nur die Berichte Humboldts benutzen, der in die geheime Korrespon¬
denz nicht eingeweiht war. Er beurtheilt also Metternichs Politik zu ungünstig.
*
) Oncken 15 ff.
**) Oncken 20. Duncker 449 f.
Oncken 23 ff.
f) Oncken 27. Duncker 449 f.
ff) Diese Forderung richtete am 4. November der Herzog v. Bassano, Minister des Aus¬
wärtigen, an den preußischen Vertreter v. Krusemark in Wilna, dem Sammelplätze aller
Diplomaten während des Feldzuges, dann nochmals der französische Gesandte Se. Marsan
direkt an Hardenberg. Duncker 448 ff.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/7>, abgerufen am 03.07.2024.