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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Alle diese Kämpfe, Arbeiten, Sorgen und Verdrießlichkeiten drängten sich
für Lassalle in die sieben Monate von der ersten Oktoberwoche 1863 bis zur
zweiten Maiwoche 1864 zusammen. Was er in dieser Zeit zu Staude ge¬
bracht hat, bleibt immerhin eine sehr beachtenswerthe Leistung. Die einzigen
Licht- und Ruhepunkte in diesem Meer von großen und kleinen Plagen waren
die Beweise von Liebe und Anhänglichkeit, die ihm gelegentlich aus der Arbeiter¬
welt zukamen. Aus mehreren Orten gingen ihm Adressen zu, die mit Tau¬
senden von Unterschriften bedeckt waren. Sie waren Balsam für seine tief¬
verwundete Eitelkeit und Keime zu neuen trügerischen Hoffnungen. Aber in
Stunden ernster Betrachtung seiner Lage konnte er sich doch nicht verbergen,
daß er für eine verlorene Sache kämpfte. So schrieb er am 14. Februar 1864
an die Bevollmächtigten des Vereins: "Neue Gelder kaun ich schlechterdings
nicht mehr beschaffen, ebensowenig aber den Verein jetzt schon zu Grunde
gehen lassen, so lange Hoffnung am politischen Himmel winkt____ Ich bin
todtmüde, und so stark meine Organisation ist, so wankt sie bis in ihr Mark
hinein. Meine Aufregung ist so groß, daß ich keine Nacht mehr schlafen kann.
Ich wälze mich bis fünf Uhr auf dem Lager und stehe mit Kopfschmerz und
tief erschöpft auf. Ich bin überarbeitet, überangestrengt, übermüdet im furcht¬
barsten Grade. Die wahnsinnige Anstrengung, den Bastiat-Schulze außer und
neben allem Andern in drei Monaten auszuarbeiten, die tiefe und schmerzliche
Enttäuschung, der fressende innere Aerger, den mir die Gleichgiltigkeit und
Apathie des Arbeiterstandes, in seiner Masse genommen, einflößt, -- Beides
zusammen war mir zu viel."

In so trübseliger Stimmung verließ Lassalle am 8. Mai Berlin, um
seine sommerliche Erholungstour anzutreten. Vorher aber wollte er am Rhein,
wo er bisher seine glänzendsten Triumphe gefeiert hatte, wieder einmal Heer¬
schau über seine Getreuen halten oder, wie er sich jetzt ausdrückte, "glorreiche
Heerschau". Am 14. Mai sprach er in Solingen, am 15. in Barmer, am
16. in Köln und am 18. in Wermelskirchen. Seine dortigen Anhänger em¬
pfingen ihn mit stürmischem Jubel, und er war davon wie bezaubert. Am
20. Mai schreibt er der Gräfin Hatzfeldt: "So was habe ich noch nie ge¬
sehen! Unwillkürlich mußten Einem die Faustszenen einfallen! Sowohl die
im ersten Theile (Zufrieden jauchzet Groß und Klein; hier bin ich Mensch,
hier darf ich's sein) als die am Schlüsse des zweiten Theiles, wo er befriedigt
stillsteht. Die ganze Bevölkerung war in einem namenlosen Jubel. Ich hatte
beständig deu Eindruck, so müsse es bei der Stiftung neuer Religionen ausge¬
sehen haben." So schreibt Lassalle an eine vertraute Freundin. Kein Zweifel,
daß er für den Augenblick glaubte, was er sagte. Ebenso sicher aber ist, daß
er trotz seines außerordentlich scharfen Blickes blind und trotz seiner eisernen


Alle diese Kämpfe, Arbeiten, Sorgen und Verdrießlichkeiten drängten sich
für Lassalle in die sieben Monate von der ersten Oktoberwoche 1863 bis zur
zweiten Maiwoche 1864 zusammen. Was er in dieser Zeit zu Staude ge¬
bracht hat, bleibt immerhin eine sehr beachtenswerthe Leistung. Die einzigen
Licht- und Ruhepunkte in diesem Meer von großen und kleinen Plagen waren
die Beweise von Liebe und Anhänglichkeit, die ihm gelegentlich aus der Arbeiter¬
welt zukamen. Aus mehreren Orten gingen ihm Adressen zu, die mit Tau¬
senden von Unterschriften bedeckt waren. Sie waren Balsam für seine tief¬
verwundete Eitelkeit und Keime zu neuen trügerischen Hoffnungen. Aber in
Stunden ernster Betrachtung seiner Lage konnte er sich doch nicht verbergen,
daß er für eine verlorene Sache kämpfte. So schrieb er am 14. Februar 1864
an die Bevollmächtigten des Vereins: „Neue Gelder kaun ich schlechterdings
nicht mehr beschaffen, ebensowenig aber den Verein jetzt schon zu Grunde
gehen lassen, so lange Hoffnung am politischen Himmel winkt____ Ich bin
todtmüde, und so stark meine Organisation ist, so wankt sie bis in ihr Mark
hinein. Meine Aufregung ist so groß, daß ich keine Nacht mehr schlafen kann.
Ich wälze mich bis fünf Uhr auf dem Lager und stehe mit Kopfschmerz und
tief erschöpft auf. Ich bin überarbeitet, überangestrengt, übermüdet im furcht¬
barsten Grade. Die wahnsinnige Anstrengung, den Bastiat-Schulze außer und
neben allem Andern in drei Monaten auszuarbeiten, die tiefe und schmerzliche
Enttäuschung, der fressende innere Aerger, den mir die Gleichgiltigkeit und
Apathie des Arbeiterstandes, in seiner Masse genommen, einflößt, — Beides
zusammen war mir zu viel."

In so trübseliger Stimmung verließ Lassalle am 8. Mai Berlin, um
seine sommerliche Erholungstour anzutreten. Vorher aber wollte er am Rhein,
wo er bisher seine glänzendsten Triumphe gefeiert hatte, wieder einmal Heer¬
schau über seine Getreuen halten oder, wie er sich jetzt ausdrückte, „glorreiche
Heerschau". Am 14. Mai sprach er in Solingen, am 15. in Barmer, am
16. in Köln und am 18. in Wermelskirchen. Seine dortigen Anhänger em¬
pfingen ihn mit stürmischem Jubel, und er war davon wie bezaubert. Am
20. Mai schreibt er der Gräfin Hatzfeldt: „So was habe ich noch nie ge¬
sehen! Unwillkürlich mußten Einem die Faustszenen einfallen! Sowohl die
im ersten Theile (Zufrieden jauchzet Groß und Klein; hier bin ich Mensch,
hier darf ich's sein) als die am Schlüsse des zweiten Theiles, wo er befriedigt
stillsteht. Die ganze Bevölkerung war in einem namenlosen Jubel. Ich hatte
beständig deu Eindruck, so müsse es bei der Stiftung neuer Religionen ausge¬
sehen haben." So schreibt Lassalle an eine vertraute Freundin. Kein Zweifel,
daß er für den Augenblick glaubte, was er sagte. Ebenso sicher aber ist, daß
er trotz seines außerordentlich scharfen Blickes blind und trotz seiner eisernen


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[0499] Alle diese Kämpfe, Arbeiten, Sorgen und Verdrießlichkeiten drängten sich für Lassalle in die sieben Monate von der ersten Oktoberwoche 1863 bis zur zweiten Maiwoche 1864 zusammen. Was er in dieser Zeit zu Staude ge¬ bracht hat, bleibt immerhin eine sehr beachtenswerthe Leistung. Die einzigen Licht- und Ruhepunkte in diesem Meer von großen und kleinen Plagen waren die Beweise von Liebe und Anhänglichkeit, die ihm gelegentlich aus der Arbeiter¬ welt zukamen. Aus mehreren Orten gingen ihm Adressen zu, die mit Tau¬ senden von Unterschriften bedeckt waren. Sie waren Balsam für seine tief¬ verwundete Eitelkeit und Keime zu neuen trügerischen Hoffnungen. Aber in Stunden ernster Betrachtung seiner Lage konnte er sich doch nicht verbergen, daß er für eine verlorene Sache kämpfte. So schrieb er am 14. Februar 1864 an die Bevollmächtigten des Vereins: „Neue Gelder kaun ich schlechterdings nicht mehr beschaffen, ebensowenig aber den Verein jetzt schon zu Grunde gehen lassen, so lange Hoffnung am politischen Himmel winkt____ Ich bin todtmüde, und so stark meine Organisation ist, so wankt sie bis in ihr Mark hinein. Meine Aufregung ist so groß, daß ich keine Nacht mehr schlafen kann. Ich wälze mich bis fünf Uhr auf dem Lager und stehe mit Kopfschmerz und tief erschöpft auf. Ich bin überarbeitet, überangestrengt, übermüdet im furcht¬ barsten Grade. Die wahnsinnige Anstrengung, den Bastiat-Schulze außer und neben allem Andern in drei Monaten auszuarbeiten, die tiefe und schmerzliche Enttäuschung, der fressende innere Aerger, den mir die Gleichgiltigkeit und Apathie des Arbeiterstandes, in seiner Masse genommen, einflößt, — Beides zusammen war mir zu viel." In so trübseliger Stimmung verließ Lassalle am 8. Mai Berlin, um seine sommerliche Erholungstour anzutreten. Vorher aber wollte er am Rhein, wo er bisher seine glänzendsten Triumphe gefeiert hatte, wieder einmal Heer¬ schau über seine Getreuen halten oder, wie er sich jetzt ausdrückte, „glorreiche Heerschau". Am 14. Mai sprach er in Solingen, am 15. in Barmer, am 16. in Köln und am 18. in Wermelskirchen. Seine dortigen Anhänger em¬ pfingen ihn mit stürmischem Jubel, und er war davon wie bezaubert. Am 20. Mai schreibt er der Gräfin Hatzfeldt: „So was habe ich noch nie ge¬ sehen! Unwillkürlich mußten Einem die Faustszenen einfallen! Sowohl die im ersten Theile (Zufrieden jauchzet Groß und Klein; hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein) als die am Schlüsse des zweiten Theiles, wo er befriedigt stillsteht. Die ganze Bevölkerung war in einem namenlosen Jubel. Ich hatte beständig deu Eindruck, so müsse es bei der Stiftung neuer Religionen ausge¬ sehen haben." So schreibt Lassalle an eine vertraute Freundin. Kein Zweifel, daß er für den Augenblick glaubte, was er sagte. Ebenso sicher aber ist, daß er trotz seines außerordentlich scharfen Blickes blind und trotz seiner eisernen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/499>, abgerufen am 03.07.2024.