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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Weltmarkt werde der Nation gehören, welche sich zuerst zur Verwirklichung
seiner Theorie entschlösse.

Niemals ist es Lassalle in den Sinn gekommen, seine Vorschläge für die
Lösung der sozialen Frage auszugeben. Die Produktivgenossenschaft mit Staats¬
hilfe ist ihm nur der nothwendige erste Schritt auf dem Wege nach jener hin.
Hat er hierin recht gesehen? Kaum wird das jemand noch glauben. Schwer
zu begreifen ist zunächst, daß durch die Produktivgenossenschaft mehr produzirt
werden soll als jetzt. Nicht so sehr die mangelhafte Verkeilung als die noth¬
wendig beschränkte Produktion ist schuld an dem Drucke, der auf dem Unbe¬
mittelten lastet. Können wir jetzt unter dem Stachel der Konkurrenz mit ihrer
langen Arbeitszeit und mit der zwangsmäßigen Lage der Arbeiter nicht mehr
erzeugen, als der Fall, wie sollten wir unter eiuer minder strengen Ordnung
dazu im Stande sein? Sodann ist höchst unwahrscheinlich, daß der Produk-
tionsverband dnrch bloße Beseitigung der Kapitalisten, d. h. der Kapitalprämie,
seinen Mitgliedern einen erheblichen Mehrertrag ihrer Anstrengung liefern
würde als den dermaligen Arbeitslohn. Angenommen, ein Fabrikant hätte
4000 Arbeiter und legte jährlich 240,000 Mark Reingewinn zurück. Betrachte"
wir selbst die ganze Summe als Kapitalprümie, was nicht zulässig ist, und
vertheilen wir sie unter die Arbeiter, so bekommt jeder derselben nur 60 Mark
jährlich mehr. Lassalle verschweigt ferner zu oft, daß das Kapital auch un¬
mittelbar das Risiko trägt, während er doch beständig darauf hinweist, daß
ihm alle Vortheile unmittelbar zufließen. Es mag sein, daß Risiko und Ver¬
lust indirekt auf den Arbeiter abgewälzt werden, direkt treten sie an ihn nicht
heran. Aber wie sollten die Produktionsverbände, die ja nach und nach zu
errichten wären, Verluste ertragen können? Es ist eine gute Eigenschaft des
Kapitals, daß der Besitzer desselben durch einen Verlust nicht zu Grunde
gerichtet werden kann; er kann von hunderttausend Mark fünfzigtausend ver¬
lieren, ohne deßhalb ein Bettler zu werden. Gesetzt aber, zweitausend Arbeiter
einer Genossenschaft erleiden denselben Verlust, welcher Ausweg bliebe ihnen,
die doch unmittelbar von der Einnahme leben sollen? Lassalle hätte, um seine
Produktionsverbände zu sichern, alle ans einmal errichten müssen. Und selbst
dann würde die Staatshilfe in dieser Form unwirksam sein. Wir müßten
den Universalstaat haben, der die ganze Menschheit einschlösse. Denn auch
ein Nationalstaat kann große Verluste erleide", vor denen ihn keine Assekuranz
sicher zu stellen vermag. Es ist ein Wahn, zu glauben, daß die Konjunkturen
sich ausschließen lassen. Im Gegensatze zu Lassalle's Hoffnungen würde der
Staat, welcher die neue Ordnung zuerst einführte, auf dem Weltmarkte am
Schlechtesten gestellt sein, weil er am Schwersten Verluste ertragen könnte.

Die Lassalle'sche Anschauungsweise wird endlich in ihrem Mittelpunkte


Weltmarkt werde der Nation gehören, welche sich zuerst zur Verwirklichung
seiner Theorie entschlösse.

Niemals ist es Lassalle in den Sinn gekommen, seine Vorschläge für die
Lösung der sozialen Frage auszugeben. Die Produktivgenossenschaft mit Staats¬
hilfe ist ihm nur der nothwendige erste Schritt auf dem Wege nach jener hin.
Hat er hierin recht gesehen? Kaum wird das jemand noch glauben. Schwer
zu begreifen ist zunächst, daß durch die Produktivgenossenschaft mehr produzirt
werden soll als jetzt. Nicht so sehr die mangelhafte Verkeilung als die noth¬
wendig beschränkte Produktion ist schuld an dem Drucke, der auf dem Unbe¬
mittelten lastet. Können wir jetzt unter dem Stachel der Konkurrenz mit ihrer
langen Arbeitszeit und mit der zwangsmäßigen Lage der Arbeiter nicht mehr
erzeugen, als der Fall, wie sollten wir unter eiuer minder strengen Ordnung
dazu im Stande sein? Sodann ist höchst unwahrscheinlich, daß der Produk-
tionsverband dnrch bloße Beseitigung der Kapitalisten, d. h. der Kapitalprämie,
seinen Mitgliedern einen erheblichen Mehrertrag ihrer Anstrengung liefern
würde als den dermaligen Arbeitslohn. Angenommen, ein Fabrikant hätte
4000 Arbeiter und legte jährlich 240,000 Mark Reingewinn zurück. Betrachte»
wir selbst die ganze Summe als Kapitalprümie, was nicht zulässig ist, und
vertheilen wir sie unter die Arbeiter, so bekommt jeder derselben nur 60 Mark
jährlich mehr. Lassalle verschweigt ferner zu oft, daß das Kapital auch un¬
mittelbar das Risiko trägt, während er doch beständig darauf hinweist, daß
ihm alle Vortheile unmittelbar zufließen. Es mag sein, daß Risiko und Ver¬
lust indirekt auf den Arbeiter abgewälzt werden, direkt treten sie an ihn nicht
heran. Aber wie sollten die Produktionsverbände, die ja nach und nach zu
errichten wären, Verluste ertragen können? Es ist eine gute Eigenschaft des
Kapitals, daß der Besitzer desselben durch einen Verlust nicht zu Grunde
gerichtet werden kann; er kann von hunderttausend Mark fünfzigtausend ver¬
lieren, ohne deßhalb ein Bettler zu werden. Gesetzt aber, zweitausend Arbeiter
einer Genossenschaft erleiden denselben Verlust, welcher Ausweg bliebe ihnen,
die doch unmittelbar von der Einnahme leben sollen? Lassalle hätte, um seine
Produktionsverbände zu sichern, alle ans einmal errichten müssen. Und selbst
dann würde die Staatshilfe in dieser Form unwirksam sein. Wir müßten
den Universalstaat haben, der die ganze Menschheit einschlösse. Denn auch
ein Nationalstaat kann große Verluste erleide», vor denen ihn keine Assekuranz
sicher zu stellen vermag. Es ist ein Wahn, zu glauben, daß die Konjunkturen
sich ausschließen lassen. Im Gegensatze zu Lassalle's Hoffnungen würde der
Staat, welcher die neue Ordnung zuerst einführte, auf dem Weltmarkte am
Schlechtesten gestellt sein, weil er am Schwersten Verluste ertragen könnte.

Die Lassalle'sche Anschauungsweise wird endlich in ihrem Mittelpunkte


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[0495] Weltmarkt werde der Nation gehören, welche sich zuerst zur Verwirklichung seiner Theorie entschlösse. Niemals ist es Lassalle in den Sinn gekommen, seine Vorschläge für die Lösung der sozialen Frage auszugeben. Die Produktivgenossenschaft mit Staats¬ hilfe ist ihm nur der nothwendige erste Schritt auf dem Wege nach jener hin. Hat er hierin recht gesehen? Kaum wird das jemand noch glauben. Schwer zu begreifen ist zunächst, daß durch die Produktivgenossenschaft mehr produzirt werden soll als jetzt. Nicht so sehr die mangelhafte Verkeilung als die noth¬ wendig beschränkte Produktion ist schuld an dem Drucke, der auf dem Unbe¬ mittelten lastet. Können wir jetzt unter dem Stachel der Konkurrenz mit ihrer langen Arbeitszeit und mit der zwangsmäßigen Lage der Arbeiter nicht mehr erzeugen, als der Fall, wie sollten wir unter eiuer minder strengen Ordnung dazu im Stande sein? Sodann ist höchst unwahrscheinlich, daß der Produk- tionsverband dnrch bloße Beseitigung der Kapitalisten, d. h. der Kapitalprämie, seinen Mitgliedern einen erheblichen Mehrertrag ihrer Anstrengung liefern würde als den dermaligen Arbeitslohn. Angenommen, ein Fabrikant hätte 4000 Arbeiter und legte jährlich 240,000 Mark Reingewinn zurück. Betrachte» wir selbst die ganze Summe als Kapitalprümie, was nicht zulässig ist, und vertheilen wir sie unter die Arbeiter, so bekommt jeder derselben nur 60 Mark jährlich mehr. Lassalle verschweigt ferner zu oft, daß das Kapital auch un¬ mittelbar das Risiko trägt, während er doch beständig darauf hinweist, daß ihm alle Vortheile unmittelbar zufließen. Es mag sein, daß Risiko und Ver¬ lust indirekt auf den Arbeiter abgewälzt werden, direkt treten sie an ihn nicht heran. Aber wie sollten die Produktionsverbände, die ja nach und nach zu errichten wären, Verluste ertragen können? Es ist eine gute Eigenschaft des Kapitals, daß der Besitzer desselben durch einen Verlust nicht zu Grunde gerichtet werden kann; er kann von hunderttausend Mark fünfzigtausend ver¬ lieren, ohne deßhalb ein Bettler zu werden. Gesetzt aber, zweitausend Arbeiter einer Genossenschaft erleiden denselben Verlust, welcher Ausweg bliebe ihnen, die doch unmittelbar von der Einnahme leben sollen? Lassalle hätte, um seine Produktionsverbände zu sichern, alle ans einmal errichten müssen. Und selbst dann würde die Staatshilfe in dieser Form unwirksam sein. Wir müßten den Universalstaat haben, der die ganze Menschheit einschlösse. Denn auch ein Nationalstaat kann große Verluste erleide», vor denen ihn keine Assekuranz sicher zu stellen vermag. Es ist ein Wahn, zu glauben, daß die Konjunkturen sich ausschließen lassen. Im Gegensatze zu Lassalle's Hoffnungen würde der Staat, welcher die neue Ordnung zuerst einführte, auf dem Weltmarkte am Schlechtesten gestellt sein, weil er am Schwersten Verluste ertragen könnte. Die Lassalle'sche Anschauungsweise wird endlich in ihrem Mittelpunkte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/495>, abgerufen am 23.07.2024.