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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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berühren, enthalten die Regel, daß ein Gesell, der in Unfrieden von seine"!
Meister fortgezogen ist, nicht eher von einem andern in Arbeit genommen
werden darf, als bis er sich mit ihm versöhnt hat. Traf er in einer Stadt
ein, und folgte ihm ein Brief nach, der über Versäumung dieser Vorschrift Be¬
schwerde führte, so mußte er ohne Verzug entlassen werden und umkehren, um
sich mit dem Kläger auseinanderzusetzen. Diese Regel ist augenscheinlich die
Veranlassung zu obiger Rede. Die Frage: "Wißt Ihr etwas, das Euch oder
mir zuwider ist", wird vom Gesellen gestellt, damit konstatirt werde, daß keine
Klage gegen ihn vorliege, oder damit sie, wenn dies der Fall, sogleich beseitigt
werden könne. Andrerseits aber hatte der Meister hierin Bürgschaft, daß der
scheidende Gesell ihn nicht in Verruf bringen und ihm dadurch die nöthigen
Arbeitskräfte entziehen konnte.

Unmittelbar nach dem Abschied wanderte der Gesell in Begleitung seiner
Mitgesellen zum Thore hinaus. Brach er nicht am Montage auf, so durften
ihn nur die Kameraden aus seiner Werkstatt oder, wenn er dort mit dem
Meister allein gearbeitet, nur zwei oder drei andere Gesellen fortbringen. Gegen
das große Geleit, durch das viel Anlaß zum Feiern gegeben wurde, ist viel
geeifert worden, und die Handwerke suchten es schon frühzeitig zu beschränken;
ganz aber vermochte man es niemals zu unterdrücken; denn der Geselle hatte
das Recht, sich sein Felleisen oder Bündel von einem ihn Begleitenden bis vor
das Thor hinaustragen zu lassen.

Unterwegs sollte sich der Gesell durch Arbeit unterhalten. Wo aber keine
zu haben war, erhielt er in dem "Geschenk" einen bestimmten Betrag zur
Unterstützung. Das Geschenk hatte ursprünglich nicht den Charakter eines
Almosens, sondern den einer Fest- oder Ehrengabe für den ankommenden Gast.
Es gehörte zu derselben alten deutschen Sitte, nach der man dein Fürsten, der
eine Stadt mit seinem Besuche beehrte, Geld, Wein oder etwas Anderes ent¬
gegenbrachte. Erst später, als der Wanderzwang aufkam, wurde das Geschenk
zu einem Reisekostenbeitrag, und es bildete sich folgende Regel aus. Jeder
Ankommende hatte, wenn Arbeit vorhanden war, anch Arbeit zu nehmen. War
keine vorhanden, so gab man ihm das Geschenk. Gab es Arbeit und weigerte
sich der Gesell derselben, hatte aber selbst die Mittel, weiter wandern zu können,
so stand ihm dabei nichts im Wege; hatte er die Mittel nicht und lehnte er
dennoch die Arbeit ab, so konnte er ebenfalls abziehen, empfing aber ebenso
wenig das Geschenk. Um dies überhaupt reichen zu können, ließ man jeden
am Orte arbeitenden Gesellen wöchentlich einen kleinen Beitrag in die Büchse
der Genossenschaft steuern, und so war das Geschenk am Ende kein eigentliches
Almosen, sondern das Ergebniß eines Rechtes, welches man sich durch be¬
stimmte Leistungen erworben hatte, wie die Unterstützung, die man sich jetzt


Grenzboten II. 1877. 29

berühren, enthalten die Regel, daß ein Gesell, der in Unfrieden von seine»!
Meister fortgezogen ist, nicht eher von einem andern in Arbeit genommen
werden darf, als bis er sich mit ihm versöhnt hat. Traf er in einer Stadt
ein, und folgte ihm ein Brief nach, der über Versäumung dieser Vorschrift Be¬
schwerde führte, so mußte er ohne Verzug entlassen werden und umkehren, um
sich mit dem Kläger auseinanderzusetzen. Diese Regel ist augenscheinlich die
Veranlassung zu obiger Rede. Die Frage: „Wißt Ihr etwas, das Euch oder
mir zuwider ist", wird vom Gesellen gestellt, damit konstatirt werde, daß keine
Klage gegen ihn vorliege, oder damit sie, wenn dies der Fall, sogleich beseitigt
werden könne. Andrerseits aber hatte der Meister hierin Bürgschaft, daß der
scheidende Gesell ihn nicht in Verruf bringen und ihm dadurch die nöthigen
Arbeitskräfte entziehen konnte.

Unmittelbar nach dem Abschied wanderte der Gesell in Begleitung seiner
Mitgesellen zum Thore hinaus. Brach er nicht am Montage auf, so durften
ihn nur die Kameraden aus seiner Werkstatt oder, wenn er dort mit dem
Meister allein gearbeitet, nur zwei oder drei andere Gesellen fortbringen. Gegen
das große Geleit, durch das viel Anlaß zum Feiern gegeben wurde, ist viel
geeifert worden, und die Handwerke suchten es schon frühzeitig zu beschränken;
ganz aber vermochte man es niemals zu unterdrücken; denn der Geselle hatte
das Recht, sich sein Felleisen oder Bündel von einem ihn Begleitenden bis vor
das Thor hinaustragen zu lassen.

Unterwegs sollte sich der Gesell durch Arbeit unterhalten. Wo aber keine
zu haben war, erhielt er in dem „Geschenk" einen bestimmten Betrag zur
Unterstützung. Das Geschenk hatte ursprünglich nicht den Charakter eines
Almosens, sondern den einer Fest- oder Ehrengabe für den ankommenden Gast.
Es gehörte zu derselben alten deutschen Sitte, nach der man dein Fürsten, der
eine Stadt mit seinem Besuche beehrte, Geld, Wein oder etwas Anderes ent¬
gegenbrachte. Erst später, als der Wanderzwang aufkam, wurde das Geschenk
zu einem Reisekostenbeitrag, und es bildete sich folgende Regel aus. Jeder
Ankommende hatte, wenn Arbeit vorhanden war, anch Arbeit zu nehmen. War
keine vorhanden, so gab man ihm das Geschenk. Gab es Arbeit und weigerte
sich der Gesell derselben, hatte aber selbst die Mittel, weiter wandern zu können,
so stand ihm dabei nichts im Wege; hatte er die Mittel nicht und lehnte er
dennoch die Arbeit ab, so konnte er ebenfalls abziehen, empfing aber ebenso
wenig das Geschenk. Um dies überhaupt reichen zu können, ließ man jeden
am Orte arbeitenden Gesellen wöchentlich einen kleinen Beitrag in die Büchse
der Genossenschaft steuern, und so war das Geschenk am Ende kein eigentliches
Almosen, sondern das Ergebniß eines Rechtes, welches man sich durch be¬
stimmte Leistungen erworben hatte, wie die Unterstützung, die man sich jetzt


Grenzboten II. 1877. 29
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/469>, abgerufen am 23.07.2024.