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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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nahen Zukunft, in welcher er an der Spitze von zwanzig Abgeordneten aus
dem Arbeiterstande in der zweiten Kammer Preußens die vorwärts treibende
Opposition bilden werde. Allein die Wirklichkeit war anders beschaffen als
seine Phantasien. Nicht zehn Personen von Fleisch und Blut kamen auf jedes
Tausend von den Anhängern, mit denen er bei seinen Plänen rechnete, und
als er den Verein gründete, konnte er Alles in Allem nicht über mehr als etwa
tausend wirkliche, d. h. zahlende Mitglieder verfügen. Die empfindliche Lücke
aber war für ihn der Mangel an publizistischer Vertretung. Einzelne Organe
der Presse erklärten sich wohl sür ihn, aber es waren fast ohne Ausnahme
Winkelblättchen mit wenigen Lesern. Einen gewissen Ersatz gewährten die
Agitationsschriften Lassalle's, die massenhaft vertrieben wurden, und zu denen
jetzt die große Rede "Indirekte Steuern" trat, mit der ihm vor dem Kammer¬
gerichte gelungen war, die oben erwähnte über ihn verhängte Gefängnißstrafe
in eine Geldbuße zu verwandeln. Sonst wurden noch als Vereinsschriften
verbreitet der "Öffne Brief," den Nodbertus an das leipziger Centralkomitü
gerichtet hatte, "Lassalle und seine Verkleinerer" von Bernhard Becker und
"Das Recht auf Arbeit" von dem alten Sozialisten Moses Heß. Die Poesie
war unter denselben durch Herwegh's Bundeslied "Bet' und arbeit', ruft die
Welt," das der Zukunftsmufiker Hans v. Bülow komponirte, sowie durch den
Roman "Lucinde," den der frankfurter Advokat v. Schweitzer dem Agitator
gewidmet hatte, vertreten. Lassalle war über diese dichterischen Erzeugnisse in seiner
Weise voll Glück und Begeisterung. Mehr noch aber erfreute ihn der Eintritt
der Verfasser derselben in seinen Verein. Als der Rechtsanwalt Martiny in
Kaukehmen und Herwegh in Zürich sich bereit erklärten, ein Bevollmächtigtenamt
zu übernehmen, schuf er unverweilt eine neue Würde und ernannte beide zu
Generalbevollmächtigten, jenen für die Provinz Posen, diesen sür die Schweiz.
Beide aber haben nicht einen Finger sür den Verein gerührt, nicht einen ein¬
zigen Anhänger geworben. Ja Herwegh, einer der trägsten Menschen, die je
gelebt haben, schadete geradezu. Als am 20. Juli 1863 in Zürich die Dele-
girten von 36 schweizerischen Arbeitervereine" tagten, schickte das Konnte auch
eine Einladung an Lassalle. Dieser beauftragte Herwegh mit seiner Vertretung,
aber der also Ausgezeichnete ließ sich in der Versammlung nicht blicken, und
die Folge war, daß dieselbe sich auf Anregung Leopold Sonnemann's gegen
Lassalle aussprach. Dieser gebot seinem frankfurter Bevollmächtigten, dafür zu
sorgen, daß Sonnemcmn "wegen der tiefen UnWahrhaftigkeit feines Wesens" aus
dem Arbeiterbildungsverein zu Frankfurt entfernt werde, aber der Versuch hierzu
fand uicht die Majorität.

Im Allgemeinen hatte Lassalle mit seinen Bestrebungen, Vertreter des be¬
sitzenden und gebildeten Bürgerthums und Vertreter der Wissenschaft für seinen


nahen Zukunft, in welcher er an der Spitze von zwanzig Abgeordneten aus
dem Arbeiterstande in der zweiten Kammer Preußens die vorwärts treibende
Opposition bilden werde. Allein die Wirklichkeit war anders beschaffen als
seine Phantasien. Nicht zehn Personen von Fleisch und Blut kamen auf jedes
Tausend von den Anhängern, mit denen er bei seinen Plänen rechnete, und
als er den Verein gründete, konnte er Alles in Allem nicht über mehr als etwa
tausend wirkliche, d. h. zahlende Mitglieder verfügen. Die empfindliche Lücke
aber war für ihn der Mangel an publizistischer Vertretung. Einzelne Organe
der Presse erklärten sich wohl sür ihn, aber es waren fast ohne Ausnahme
Winkelblättchen mit wenigen Lesern. Einen gewissen Ersatz gewährten die
Agitationsschriften Lassalle's, die massenhaft vertrieben wurden, und zu denen
jetzt die große Rede „Indirekte Steuern" trat, mit der ihm vor dem Kammer¬
gerichte gelungen war, die oben erwähnte über ihn verhängte Gefängnißstrafe
in eine Geldbuße zu verwandeln. Sonst wurden noch als Vereinsschriften
verbreitet der „Öffne Brief," den Nodbertus an das leipziger Centralkomitü
gerichtet hatte, „Lassalle und seine Verkleinerer" von Bernhard Becker und
„Das Recht auf Arbeit" von dem alten Sozialisten Moses Heß. Die Poesie
war unter denselben durch Herwegh's Bundeslied „Bet' und arbeit', ruft die
Welt," das der Zukunftsmufiker Hans v. Bülow komponirte, sowie durch den
Roman „Lucinde," den der frankfurter Advokat v. Schweitzer dem Agitator
gewidmet hatte, vertreten. Lassalle war über diese dichterischen Erzeugnisse in seiner
Weise voll Glück und Begeisterung. Mehr noch aber erfreute ihn der Eintritt
der Verfasser derselben in seinen Verein. Als der Rechtsanwalt Martiny in
Kaukehmen und Herwegh in Zürich sich bereit erklärten, ein Bevollmächtigtenamt
zu übernehmen, schuf er unverweilt eine neue Würde und ernannte beide zu
Generalbevollmächtigten, jenen für die Provinz Posen, diesen sür die Schweiz.
Beide aber haben nicht einen Finger sür den Verein gerührt, nicht einen ein¬
zigen Anhänger geworben. Ja Herwegh, einer der trägsten Menschen, die je
gelebt haben, schadete geradezu. Als am 20. Juli 1863 in Zürich die Dele-
girten von 36 schweizerischen Arbeitervereine» tagten, schickte das Konnte auch
eine Einladung an Lassalle. Dieser beauftragte Herwegh mit seiner Vertretung,
aber der also Ausgezeichnete ließ sich in der Versammlung nicht blicken, und
die Folge war, daß dieselbe sich auf Anregung Leopold Sonnemann's gegen
Lassalle aussprach. Dieser gebot seinem frankfurter Bevollmächtigten, dafür zu
sorgen, daß Sonnemcmn „wegen der tiefen UnWahrhaftigkeit feines Wesens" aus
dem Arbeiterbildungsverein zu Frankfurt entfernt werde, aber der Versuch hierzu
fand uicht die Majorität.

Im Allgemeinen hatte Lassalle mit seinen Bestrebungen, Vertreter des be¬
sitzenden und gebildeten Bürgerthums und Vertreter der Wissenschaft für seinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/456>, abgerufen am 23.07.2024.