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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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zwischen der höchsten geistigen Elite der Wissenschaft und dem gesunden, noch
durch keine falsche oder halbe Bildung angekränkelten Verstände der großen
Arbeitermasse eine neue Blüthe des Volkslebens hervorwachsen müsse. Noch
jetzt erklärte er, daß er der Reaktion gegenüber Schulter an Schulter mit
der Fortschrittspartei stehe. Aber einen Monat später schon veranlaßte ihn ein
Schreiben ans Leipzig, sich Hals über Kopf in die Arbeiteragitation zu
werfen, ein Entschluß, zu dein nach seiner eignen Aussage die Gräfin Hcchfeldt
eifrig gedrängt hat.

Die Tage des Konflikts waren die Blüthezeit des Vereinslebens; kein
Stand, der sich nicht zu Vereinen organisirte, die sich wieder zu Kongressen
zusammenschlossen. Namentlich die deutschen Jndustriebezirke umspannte ein
Netz von Arbeitervereinen, die meist unter dem Einflüsse der Fortschrittspartei
standen. Unter ihnen pflegte besonders der in Leipzig die Idee eines allge¬
meinen Arbeiterkongresses, der über die Lage des Arbeiterstandes im Allge¬
meinen sowie über Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und die Assoziation zu
Konsum-, Spar- und Rohstoffvereinen berathen sollte. Zu diesem Zweck bestand
ein Centralkomite, in welchem der Schriftsteller Dämmer und der Schuhmacher
Vcihlteich die erste Geige spielten, welches aber trotz einer ziemlich starken
Rührigkeit nicht recht vom Flecke kam, da die Herren außer der ganz allge¬
meinen Absicht, die soziale Frage zu lösen, nicht wußten, was sie wollten.
Schon halb im Begriffe, sich aufzulösen, wandte das Comite sich im Februar 1863
um Rath an Lothar Bucher, Rodbertus und Lassalle, auf den es durch seinen
Vortrag vor den Arbeitern der oranienburger Vorstadt aufmerksam geworden
war. Derselbe erwiderte auf die Zuschrift schon am 1. März durch ein
"Offenes Antwortschreiben," in welchem er fein Glaubensbekenntniß in Betreff
der Arbeiterfrage aussprach. Er entwickelte das sogenannte "eherne Lohngesetz",
nach welchem unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durch¬
schnittliche Arbeitslohn immer auf den Lebensunterhalt reduzirt bleibt, der in
einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung des Lebens und zur Fortpflanzung
erforderlich ist, und er suchte statistisch nachzuweisen, daß 89 bis 96 Prozent
der Bevölkerung Preußens mehr oder minder unter dem Drucke dieses Gesetzes
lebten. Hierauf gestützt, erklärte er die von Schutze-Delitzsch empfohlene individuelle
Selbsthilfe für unzureichend und verlangte Staatskredit für Produktivassozia-
tionen, die uach und nach alle Arbeiter umfassen sollten. Nur so sei an eine
wirkliche Hebung des vierten Standes zu denken. Endlich bezeichnete er als
einziges, aber auch als unfehlbares Mittel zur Erreichung jenes Zieles auf
friedlichem und gesetzlichem Wege das allgemeine Wahlrecht.

Damit hatte Lassalle den Rubikon überschritten. Zwar gab er sich den
Anschein, als wolle er sich auch jetzt noch nicht persönlich an der Agitation


Grenzboten II. 1877- ü7

zwischen der höchsten geistigen Elite der Wissenschaft und dem gesunden, noch
durch keine falsche oder halbe Bildung angekränkelten Verstände der großen
Arbeitermasse eine neue Blüthe des Volkslebens hervorwachsen müsse. Noch
jetzt erklärte er, daß er der Reaktion gegenüber Schulter an Schulter mit
der Fortschrittspartei stehe. Aber einen Monat später schon veranlaßte ihn ein
Schreiben ans Leipzig, sich Hals über Kopf in die Arbeiteragitation zu
werfen, ein Entschluß, zu dein nach seiner eignen Aussage die Gräfin Hcchfeldt
eifrig gedrängt hat.

Die Tage des Konflikts waren die Blüthezeit des Vereinslebens; kein
Stand, der sich nicht zu Vereinen organisirte, die sich wieder zu Kongressen
zusammenschlossen. Namentlich die deutschen Jndustriebezirke umspannte ein
Netz von Arbeitervereinen, die meist unter dem Einflüsse der Fortschrittspartei
standen. Unter ihnen pflegte besonders der in Leipzig die Idee eines allge¬
meinen Arbeiterkongresses, der über die Lage des Arbeiterstandes im Allge¬
meinen sowie über Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und die Assoziation zu
Konsum-, Spar- und Rohstoffvereinen berathen sollte. Zu diesem Zweck bestand
ein Centralkomite, in welchem der Schriftsteller Dämmer und der Schuhmacher
Vcihlteich die erste Geige spielten, welches aber trotz einer ziemlich starken
Rührigkeit nicht recht vom Flecke kam, da die Herren außer der ganz allge¬
meinen Absicht, die soziale Frage zu lösen, nicht wußten, was sie wollten.
Schon halb im Begriffe, sich aufzulösen, wandte das Comite sich im Februar 1863
um Rath an Lothar Bucher, Rodbertus und Lassalle, auf den es durch seinen
Vortrag vor den Arbeitern der oranienburger Vorstadt aufmerksam geworden
war. Derselbe erwiderte auf die Zuschrift schon am 1. März durch ein
„Offenes Antwortschreiben," in welchem er fein Glaubensbekenntniß in Betreff
der Arbeiterfrage aussprach. Er entwickelte das sogenannte „eherne Lohngesetz",
nach welchem unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durch¬
schnittliche Arbeitslohn immer auf den Lebensunterhalt reduzirt bleibt, der in
einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung des Lebens und zur Fortpflanzung
erforderlich ist, und er suchte statistisch nachzuweisen, daß 89 bis 96 Prozent
der Bevölkerung Preußens mehr oder minder unter dem Drucke dieses Gesetzes
lebten. Hierauf gestützt, erklärte er die von Schutze-Delitzsch empfohlene individuelle
Selbsthilfe für unzureichend und verlangte Staatskredit für Produktivassozia-
tionen, die uach und nach alle Arbeiter umfassen sollten. Nur so sei an eine
wirkliche Hebung des vierten Standes zu denken. Endlich bezeichnete er als
einziges, aber auch als unfehlbares Mittel zur Erreichung jenes Zieles auf
friedlichem und gesetzlichem Wege das allgemeine Wahlrecht.

Damit hatte Lassalle den Rubikon überschritten. Zwar gab er sich den
Anschein, als wolle er sich auch jetzt noch nicht persönlich an der Agitation


Grenzboten II. 1877- ü7
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[0453] zwischen der höchsten geistigen Elite der Wissenschaft und dem gesunden, noch durch keine falsche oder halbe Bildung angekränkelten Verstände der großen Arbeitermasse eine neue Blüthe des Volkslebens hervorwachsen müsse. Noch jetzt erklärte er, daß er der Reaktion gegenüber Schulter an Schulter mit der Fortschrittspartei stehe. Aber einen Monat später schon veranlaßte ihn ein Schreiben ans Leipzig, sich Hals über Kopf in die Arbeiteragitation zu werfen, ein Entschluß, zu dein nach seiner eignen Aussage die Gräfin Hcchfeldt eifrig gedrängt hat. Die Tage des Konflikts waren die Blüthezeit des Vereinslebens; kein Stand, der sich nicht zu Vereinen organisirte, die sich wieder zu Kongressen zusammenschlossen. Namentlich die deutschen Jndustriebezirke umspannte ein Netz von Arbeitervereinen, die meist unter dem Einflüsse der Fortschrittspartei standen. Unter ihnen pflegte besonders der in Leipzig die Idee eines allge¬ meinen Arbeiterkongresses, der über die Lage des Arbeiterstandes im Allge¬ meinen sowie über Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und die Assoziation zu Konsum-, Spar- und Rohstoffvereinen berathen sollte. Zu diesem Zweck bestand ein Centralkomite, in welchem der Schriftsteller Dämmer und der Schuhmacher Vcihlteich die erste Geige spielten, welches aber trotz einer ziemlich starken Rührigkeit nicht recht vom Flecke kam, da die Herren außer der ganz allge¬ meinen Absicht, die soziale Frage zu lösen, nicht wußten, was sie wollten. Schon halb im Begriffe, sich aufzulösen, wandte das Comite sich im Februar 1863 um Rath an Lothar Bucher, Rodbertus und Lassalle, auf den es durch seinen Vortrag vor den Arbeitern der oranienburger Vorstadt aufmerksam geworden war. Derselbe erwiderte auf die Zuschrift schon am 1. März durch ein „Offenes Antwortschreiben," in welchem er fein Glaubensbekenntniß in Betreff der Arbeiterfrage aussprach. Er entwickelte das sogenannte „eherne Lohngesetz", nach welchem unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage der durch¬ schnittliche Arbeitslohn immer auf den Lebensunterhalt reduzirt bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung des Lebens und zur Fortpflanzung erforderlich ist, und er suchte statistisch nachzuweisen, daß 89 bis 96 Prozent der Bevölkerung Preußens mehr oder minder unter dem Drucke dieses Gesetzes lebten. Hierauf gestützt, erklärte er die von Schutze-Delitzsch empfohlene individuelle Selbsthilfe für unzureichend und verlangte Staatskredit für Produktivassozia- tionen, die uach und nach alle Arbeiter umfassen sollten. Nur so sei an eine wirkliche Hebung des vierten Standes zu denken. Endlich bezeichnete er als einziges, aber auch als unfehlbares Mittel zur Erreichung jenes Zieles auf friedlichem und gesetzlichem Wege das allgemeine Wahlrecht. Damit hatte Lassalle den Rubikon überschritten. Zwar gab er sich den Anschein, als wolle er sich auch jetzt noch nicht persönlich an der Agitation Grenzboten II. 1877- ü7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/453>, abgerufen am 03.07.2024.