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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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fand er nicht die Berücksichtigung, die er erwartete und bei der Menge von
Mittelmäßigkeiten, welche bei der Fortschrittspartei das große Wort führten,
zu erwarten berechtigt war. Man nahm nicht mit Unrecht Anstoß an seinem
Verhältniß zu der Hcchfeldt, man fürchtete seinen maßlosen Ehrgeiz, man stieß
sich daran, daß er über die Austragung des Verfassungskonflikts wesentlich
andrer Meinung war als die Rechtsfauatiker der Fortschrittspartei mit ihrer
bornirten Advokateupolitik. So wühlte man ihn in kein Konnte und gab ihm
kein Mandat für das Abgeordnetenhaus. Er entschloß sich darauf hin kurz
und trat in den berliner Bezirksvereinen gegen die Partei ans. Er hätte
voraus wissen können, daß auch hier sein Weizen nicht blühen werde; denn
der berliner Fortschrittsphilister hat in feiner Einbildung und Beschränktheit
eine unverwüstliche Vorliebe für platte, leere Kopfe mit großem, herkömmlich
gestimmten Phrasenmundwerk, und ein ungewöhnlich denkender Feuergeist wie
Lassalle war für ihn unverständlich und unbequem. Der erste Vortrag, den
dieser in einer Anzahl jener Vereine hielt, machte schon sehr böses Blut. "Ver-
fassungsfragen", so schloß er, "sind ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern
Mnchtfrageu; die wirkliche Verfassung des Landes existirt nicht in dem Ge¬
setze, welches diesen Namen trägt, sondern in den thatsächlichen Machtverhält¬
nissen, die im Lande bestehen, geschriebene Verfassungen haben nur dann Werth
und Dauer, wenn fie der genaue Ausdruck der wirklichen in der Gesellschaft
bestehenden Machtverhältnisse sind, und nach den letzteren allein werden innere
Konflikte entschieden."

Sollte man's glauben, diese Aeußeruugen wurden von der Oberflächlich¬
keit der liberalen Presse als eine Theorie aufgefaßt und verurtheilt, nach
welcher Macht vor Recht gehen solle, die ebenso weisen Redner des Herren¬
hauses jubelten über den unerwarteten Bundesgenossen, und Graf Schwerin
erklärte unter dem Jubel der Kammer, daß im preußischen Staate Recht vor
Macht gehe. Der Streit verschärfte sich, und in einem neuen Vortrage zog
Lassalle die praktische Nutzanwendung aus der Theorie, die er im ersten auf¬
gestellt hatte. Er entwickelte, daß alle organisirte Macht des Staates, das
Heer, das Beamtenthum u. s. w. in den Händen der Regierung sei, die Volks¬
vertretung habe nur ein Mittel zur Durchsetzung ihres Rechts: sie solle durch
eiumüthigen Austritt aus der Kammer unter der Erklärung, nicht eher wieder
zusammentreten zu wollen, als bis die Regierung nachgewiesen, daß die nicht
bewilligten Ausgaben für das Heer eingestellt seien, die Arbeiten der Volks-
vertretung suspendiren und so den Scheinkonstitutionatisinus zerstören, der für
die Regierung so nützlich und für das Volk so schädlich sei. Bei Neuwahleu
solle mau denselben Weg einschlagen und so auf die Regierung das Odium
eiues absoluten Regiments wälzen, unter dem sie endlich- zusammenbrechen


fand er nicht die Berücksichtigung, die er erwartete und bei der Menge von
Mittelmäßigkeiten, welche bei der Fortschrittspartei das große Wort führten,
zu erwarten berechtigt war. Man nahm nicht mit Unrecht Anstoß an seinem
Verhältniß zu der Hcchfeldt, man fürchtete seinen maßlosen Ehrgeiz, man stieß
sich daran, daß er über die Austragung des Verfassungskonflikts wesentlich
andrer Meinung war als die Rechtsfauatiker der Fortschrittspartei mit ihrer
bornirten Advokateupolitik. So wühlte man ihn in kein Konnte und gab ihm
kein Mandat für das Abgeordnetenhaus. Er entschloß sich darauf hin kurz
und trat in den berliner Bezirksvereinen gegen die Partei ans. Er hätte
voraus wissen können, daß auch hier sein Weizen nicht blühen werde; denn
der berliner Fortschrittsphilister hat in feiner Einbildung und Beschränktheit
eine unverwüstliche Vorliebe für platte, leere Kopfe mit großem, herkömmlich
gestimmten Phrasenmundwerk, und ein ungewöhnlich denkender Feuergeist wie
Lassalle war für ihn unverständlich und unbequem. Der erste Vortrag, den
dieser in einer Anzahl jener Vereine hielt, machte schon sehr böses Blut. „Ver-
fassungsfragen", so schloß er, „sind ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern
Mnchtfrageu; die wirkliche Verfassung des Landes existirt nicht in dem Ge¬
setze, welches diesen Namen trägt, sondern in den thatsächlichen Machtverhält¬
nissen, die im Lande bestehen, geschriebene Verfassungen haben nur dann Werth
und Dauer, wenn fie der genaue Ausdruck der wirklichen in der Gesellschaft
bestehenden Machtverhältnisse sind, und nach den letzteren allein werden innere
Konflikte entschieden."

Sollte man's glauben, diese Aeußeruugen wurden von der Oberflächlich¬
keit der liberalen Presse als eine Theorie aufgefaßt und verurtheilt, nach
welcher Macht vor Recht gehen solle, die ebenso weisen Redner des Herren¬
hauses jubelten über den unerwarteten Bundesgenossen, und Graf Schwerin
erklärte unter dem Jubel der Kammer, daß im preußischen Staate Recht vor
Macht gehe. Der Streit verschärfte sich, und in einem neuen Vortrage zog
Lassalle die praktische Nutzanwendung aus der Theorie, die er im ersten auf¬
gestellt hatte. Er entwickelte, daß alle organisirte Macht des Staates, das
Heer, das Beamtenthum u. s. w. in den Händen der Regierung sei, die Volks¬
vertretung habe nur ein Mittel zur Durchsetzung ihres Rechts: sie solle durch
eiumüthigen Austritt aus der Kammer unter der Erklärung, nicht eher wieder
zusammentreten zu wollen, als bis die Regierung nachgewiesen, daß die nicht
bewilligten Ausgaben für das Heer eingestellt seien, die Arbeiten der Volks-
vertretung suspendiren und so den Scheinkonstitutionatisinus zerstören, der für
die Regierung so nützlich und für das Volk so schädlich sei. Bei Neuwahleu
solle mau denselben Weg einschlagen und so auf die Regierung das Odium
eiues absoluten Regiments wälzen, unter dem sie endlich- zusammenbrechen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/451>, abgerufen am 03.07.2024.