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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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nischen Institutionen ändert. Triumphirend wies der Verfasser des Buches
auf eine Anzahl von Thatsachen hin. Denn was hier vorlag, war nicht allein
die nachgewiesene Rechtsgiltigkeit von Gesetzen, die einer Revolution entsprungen
waren, sondern die bestätigte Rechtsgiltigkeit einer Rückwirkung, die für hin¬
länglich begründet galt dnrch die Berufung auf das "ungeschriebene Gesetz",
auf ein neues, völlig revolutionäres Rechtsbewußtsein, welches sich in einer
einzigen tiefberechtigten Macht- oder Gewalthandlnng Ausdruck gegeben hatte.
Der zweite Theil beschäftigt sich ausschließlich mit dem Erbrechte und speziell
mit dem römischen. Wie der Zweck des Werkes überhaupt Durchbrechung des
Unterschiedes zwischen der historischen und der dogmatischen Behandlung des
Rechtes ist, so wird hier an einem großartigen Beispiele gezeigt, wie auch das
Dogmatische eines Rechtsiustituts sich nur aus dem Verständniß seines histo¬
rischen Begriffs, d. h. des bestimmten historischen Geistesstadiums ergibt, in
welchem das betreffende Institut sich in jedem Falle befindet. Lassalle be¬
hauptet hier nichts Geringeres als, daß nicht bloß dieses und jenes Einzelne
im römischen Erbrechte, sondern das Ganze bisher mißverstanden worden sei.
Er will entdeckt haben, daß der Erbe im römischen Sinne ursprünglich nur
Erbe des Willens, nicht des Vermögens des Todten gewesen sei, und daß daher
der Gegenstand und das Interesse des römischen Erbrechts sowie seine historische
Entstehung gar nicht in der vermögensrechtlichen Sphäre liege, und dieses
Erbrecht seinem Begriffe nach keine Vermögenszuwendung darstelle, sondern
eine dieser Verstandesvorstellung geradezu entgegengesetzte Anschauung sei. Der
Begriff des Erbthums ist, die Fortexistenz des erblasserischen Willens zu ver¬
wirklichn?. Das Testament ist die römische Unsterblichkeit. Das Interesse des
Erblassers liegt nicht darin, daß der Erbe hat, sondern daß er handelt, nach
seinem, des Sterbenden, Willen handelt. Daß dies richtig ist, beweist das
Erbrecht der ältesten Zeit, nach welchem es Jedem in Rom freistand, die ganze
Erbmasse durch Legate zu erschöpfen, und dem Erben nichts als den Namen
und die Pflicht zu hinterlassen, diese Legate zu vertheilen.

Inzwischen hatte sich der Streit um die Armeerevrganisation zum Ver¬
fassungskonflikt zugespitzt und die altliberale Partei trat vor der neuentstandenen
Fortschrittspartei in den Hintergrund. Lassalle gab zu Ende des Jahres 1861
in Gemeinschaft mit Lothar Bucher das bekannte Pamphlet: "Herr Julian
Schmidt, der Literarhistoriker" heraus, ein Angriff, von dem er selbst sagt, er
sei erfolgt "unter dem rauschenden Beifall der größten Gelehrten und Denker
Deutschlands, die mir dafür mündlich und brieflich die Hand schüttelten."
Nach anderen Richtungen aber wollten sich feine ehrgeizigen Wünsche nicht
verwirklichen. Mit den Führern der Fortschrittspartei stand er in nahem
Verkehr, auch mit den Leitern des Nationalvereins hatte er Fühlung. Dennoch


nischen Institutionen ändert. Triumphirend wies der Verfasser des Buches
auf eine Anzahl von Thatsachen hin. Denn was hier vorlag, war nicht allein
die nachgewiesene Rechtsgiltigkeit von Gesetzen, die einer Revolution entsprungen
waren, sondern die bestätigte Rechtsgiltigkeit einer Rückwirkung, die für hin¬
länglich begründet galt dnrch die Berufung auf das „ungeschriebene Gesetz",
auf ein neues, völlig revolutionäres Rechtsbewußtsein, welches sich in einer
einzigen tiefberechtigten Macht- oder Gewalthandlnng Ausdruck gegeben hatte.
Der zweite Theil beschäftigt sich ausschließlich mit dem Erbrechte und speziell
mit dem römischen. Wie der Zweck des Werkes überhaupt Durchbrechung des
Unterschiedes zwischen der historischen und der dogmatischen Behandlung des
Rechtes ist, so wird hier an einem großartigen Beispiele gezeigt, wie auch das
Dogmatische eines Rechtsiustituts sich nur aus dem Verständniß seines histo¬
rischen Begriffs, d. h. des bestimmten historischen Geistesstadiums ergibt, in
welchem das betreffende Institut sich in jedem Falle befindet. Lassalle be¬
hauptet hier nichts Geringeres als, daß nicht bloß dieses und jenes Einzelne
im römischen Erbrechte, sondern das Ganze bisher mißverstanden worden sei.
Er will entdeckt haben, daß der Erbe im römischen Sinne ursprünglich nur
Erbe des Willens, nicht des Vermögens des Todten gewesen sei, und daß daher
der Gegenstand und das Interesse des römischen Erbrechts sowie seine historische
Entstehung gar nicht in der vermögensrechtlichen Sphäre liege, und dieses
Erbrecht seinem Begriffe nach keine Vermögenszuwendung darstelle, sondern
eine dieser Verstandesvorstellung geradezu entgegengesetzte Anschauung sei. Der
Begriff des Erbthums ist, die Fortexistenz des erblasserischen Willens zu ver¬
wirklichn?. Das Testament ist die römische Unsterblichkeit. Das Interesse des
Erblassers liegt nicht darin, daß der Erbe hat, sondern daß er handelt, nach
seinem, des Sterbenden, Willen handelt. Daß dies richtig ist, beweist das
Erbrecht der ältesten Zeit, nach welchem es Jedem in Rom freistand, die ganze
Erbmasse durch Legate zu erschöpfen, und dem Erben nichts als den Namen
und die Pflicht zu hinterlassen, diese Legate zu vertheilen.

Inzwischen hatte sich der Streit um die Armeerevrganisation zum Ver¬
fassungskonflikt zugespitzt und die altliberale Partei trat vor der neuentstandenen
Fortschrittspartei in den Hintergrund. Lassalle gab zu Ende des Jahres 1861
in Gemeinschaft mit Lothar Bucher das bekannte Pamphlet: „Herr Julian
Schmidt, der Literarhistoriker" heraus, ein Angriff, von dem er selbst sagt, er
sei erfolgt „unter dem rauschenden Beifall der größten Gelehrten und Denker
Deutschlands, die mir dafür mündlich und brieflich die Hand schüttelten."
Nach anderen Richtungen aber wollten sich feine ehrgeizigen Wünsche nicht
verwirklichen. Mit den Führern der Fortschrittspartei stand er in nahem
Verkehr, auch mit den Leitern des Nationalvereins hatte er Fühlung. Dennoch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/450>, abgerufen am 03.07.2024.