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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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aus materiellen Beschäftigung und deren lohnendem Erfolg unbedingt glücklich
zu fühlen. Selbst der höchst unvollkommene Zustand der Schulen, welchen
nur in äußerst seltenen Fällen Lehrer vom Fach vorstehen, sowie die mitunter
herzlich schlechte kirchliche Vertretung wird von dieser Klasse von Leuten weniger
schwer empfunden als an irgend einem Theile der Picaden der Mangel eines
guten Wirthshauses." "Einzelne Strecken der Pieaden hatten sich bereits ganz
der Kirche entwöhnt, und die dortigen Ansiedler begnügten sich damit, zu ihrer
Erbauung in der Bibel zu lesen. Diese Zustände wurden einesteils von ge¬
wissenlosen protestantischen Abenteurern, anderntheils von den Mitgliedern der
Gesellschaft Jesu ausgenutzt, welche letzteren seit Jahr und Tag auf den
deutschen Kolonien festen Fuß gefaßt haben. Um ihre eigensüchtigen Zwecke
zu verfolgen, ließen sie sich die Verdummung des Volkes angelegen sein und
leisteten dem Aberglauben und der Schwärmerei nach jeder Richtung hin Vor¬
schub." Eine grelle Beleuchtung der religiösen Verkommenheit im größten
Theile der Niederlassungen dieser Gegend lieferte der scheußliche "Muckerkrieg",
der, da er erst vor wenigen Jahren wüthete, den Lesern noch in der Erinnerung
sein wird.

Andere Picaden mit deutschen Ansiedlern sind die von Ferra Braz, von
do Herval, auch der "Theewald" genannt, von S. Paulo, ferner die Linha
do Kaffee oder Kaffeepicade, an deren innerem Ende die 1858 gegründete
Kolonie Neupetropolis liegt, die Linha nova, Hortencio, Guatorze, Quarenw
e vno, Bom Jardin und Costa da Serra.

Am Jacuhyflusse endlich gruppiren sich um S. Cruz und Mont Alverne
wieder eine Anzahl deutscher Kolonien, die an 12,000 Bewohner zählen, wohl
gedeihen und außer der Landwirthschaft auch alle möglichen Gewerbe treiben.

Zum Schluß noch Einiges über die Geschichte dieser deutschen Nieder¬
lassungen im Süden Brasiliens. Es war im Jahre 1824, als der Kaiser
Dom Pedro der Erste eine Anzahl Deutscher zur Ansiedlung in diesem Theile
seines Reiches anwerben ließ. Auch deutsche Soldaten in brasilianischen Diensten
sollten nach zurückgelegter Dienstzeit hier als Ackerbauer angesiedelt werden-
Zuerst fanden sich nur etwa hundert deutsche Landleute bereit, dem Rufe zu
folgen, und diesen wurde auf der kaiserlichen Domäne Feitoria Velha am
linken Ufer des Rio dos Sinos Land zum Bedauem angewiesen. Dichter Ur¬
wald bedeckte diese Stelle, und es kostete viel Anstrengung und Ausdauer, ehe
man ihn bewältigte und die Stadt S. Leopolds entstand. Von da an erhielt
die junge Kolonie stetigen Zuzug aus Deutschland, so daß sie 1830 schon 4856
Bewohner zählte, die sich in der Stadt und um dieselbe niedergelassen hatten.
Bald genügte die ursprünglich zur Bestedelung bestimmte Fläche der Nachfrage
nach Land nicht mehr, und es mußten neue Strecken des Waldes hinzugezogen


aus materiellen Beschäftigung und deren lohnendem Erfolg unbedingt glücklich
zu fühlen. Selbst der höchst unvollkommene Zustand der Schulen, welchen
nur in äußerst seltenen Fällen Lehrer vom Fach vorstehen, sowie die mitunter
herzlich schlechte kirchliche Vertretung wird von dieser Klasse von Leuten weniger
schwer empfunden als an irgend einem Theile der Picaden der Mangel eines
guten Wirthshauses." „Einzelne Strecken der Pieaden hatten sich bereits ganz
der Kirche entwöhnt, und die dortigen Ansiedler begnügten sich damit, zu ihrer
Erbauung in der Bibel zu lesen. Diese Zustände wurden einesteils von ge¬
wissenlosen protestantischen Abenteurern, anderntheils von den Mitgliedern der
Gesellschaft Jesu ausgenutzt, welche letzteren seit Jahr und Tag auf den
deutschen Kolonien festen Fuß gefaßt haben. Um ihre eigensüchtigen Zwecke
zu verfolgen, ließen sie sich die Verdummung des Volkes angelegen sein und
leisteten dem Aberglauben und der Schwärmerei nach jeder Richtung hin Vor¬
schub." Eine grelle Beleuchtung der religiösen Verkommenheit im größten
Theile der Niederlassungen dieser Gegend lieferte der scheußliche „Muckerkrieg",
der, da er erst vor wenigen Jahren wüthete, den Lesern noch in der Erinnerung
sein wird.

Andere Picaden mit deutschen Ansiedlern sind die von Ferra Braz, von
do Herval, auch der „Theewald" genannt, von S. Paulo, ferner die Linha
do Kaffee oder Kaffeepicade, an deren innerem Ende die 1858 gegründete
Kolonie Neupetropolis liegt, die Linha nova, Hortencio, Guatorze, Quarenw
e vno, Bom Jardin und Costa da Serra.

Am Jacuhyflusse endlich gruppiren sich um S. Cruz und Mont Alverne
wieder eine Anzahl deutscher Kolonien, die an 12,000 Bewohner zählen, wohl
gedeihen und außer der Landwirthschaft auch alle möglichen Gewerbe treiben.

Zum Schluß noch Einiges über die Geschichte dieser deutschen Nieder¬
lassungen im Süden Brasiliens. Es war im Jahre 1824, als der Kaiser
Dom Pedro der Erste eine Anzahl Deutscher zur Ansiedlung in diesem Theile
seines Reiches anwerben ließ. Auch deutsche Soldaten in brasilianischen Diensten
sollten nach zurückgelegter Dienstzeit hier als Ackerbauer angesiedelt werden-
Zuerst fanden sich nur etwa hundert deutsche Landleute bereit, dem Rufe zu
folgen, und diesen wurde auf der kaiserlichen Domäne Feitoria Velha am
linken Ufer des Rio dos Sinos Land zum Bedauem angewiesen. Dichter Ur¬
wald bedeckte diese Stelle, und es kostete viel Anstrengung und Ausdauer, ehe
man ihn bewältigte und die Stadt S. Leopolds entstand. Von da an erhielt
die junge Kolonie stetigen Zuzug aus Deutschland, so daß sie 1830 schon 4856
Bewohner zählte, die sich in der Stadt und um dieselbe niedergelassen hatten.
Bald genügte die ursprünglich zur Bestedelung bestimmte Fläche der Nachfrage
nach Land nicht mehr, und es mußten neue Strecken des Waldes hinzugezogen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/318>, abgerufen am 03.07.2024.