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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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in dessen Gewalt, und ihr Leben verfloß in der schon geschilderten, sich der
Öffentlichkeit fast ganz entziehenden Weise.

Wo wir in der Zeit vor Perikles Frauen im öffentlichen Gesellschafts¬
verkehr mit Männern finden, sind es fast ohne Ausnahme Hetären, d. h. Frauen,
die sich auf Kosten ihrer bürgerlichen Ehre und der darauf beruhenden Rechte,
wenn auch nicht immer unter Verletzung der Sittlichkeit von den herkömmlichen
Beschränkungen emancipirt hatten. Im eigentlichen Hellas wurde das oben
geschilderte ehrenfeste sociale Leben durch diese Frauen erst afficirt, als mit
dem Auftreten des neuen politischen und philosophischen Geistes nach der ge¬
waltigen Aufregung der Perserkriege auch neue moralische und sociale Ten¬
denzen sich Bahn brachen, die aber die Gesundheit des Volksgeistes bald unter¬
graben sollten. In erster Linie war es die geistige Hauptstadt von Hellas,
Athen, wo zu Perikles' Zeit eine Veränderung auf diesem Gebiete eintrat,
welche mit den modernen Ansichten über Rechte und Bestimmung der Frauen
mehr in Einklang steht. Es kamen jetzt Herren- und Damencirkel auf, in
denen geistreiche Konversation über den Urgrund des Seins, über die Thesen
des Anaxagoras und Gorgias, die Schöpfungen des Herodot und Phidias ge¬
macht wurde, und geniale und liebenswürdige Damen sammelten Schaaren
von jungen Löwen der ^öunesse nor6s um sich.

Freilich kam der erste Anstoß zu diesen "Fortschritten" von einer Seite
her, welche bisher von den ehrbaren Frauen von Hellas mit stiller Verachtung
und einigermaßen eifersüchtiger Entrüstung betrachtet worden war, d. h. von
dem emancipirten Theile der Frauen Ioniens.

An der reichgesegneten kleinasiatischen Weltküste, wo so vielfache Verkehrs-
anregnngen mit den günstigsten örtlichen Bedingungen zusammentrafen, um ein
reges materielles und geistiges Leben zu erzeugen, hatte anch der spekulative
Gedanke zuerst angefangen seinen voraussetzungslosen, von der Rücksicht auf
Bestehendes und Traditionelles losgelösten Pfaden nachzugehen. Die griechische
Philosophie war hier geboren worden und hatte durch Thales, Anciximander,
Tenophanes, Heraklit und Anaxagoras zu den folgenreichsten Ergebnissen ge¬
führt. Bestrebungen um praktische Nutzung des Gewonnenen, um allgemeine
Aufklärung und socialen Fortschritt schlössen sich daran an, und bald zeigte
sich der Boden Ioniens in bedenklicher Weise unterwühlt, die alten Satzungen
auf allen Lebensgebieten erschüttert. Religiöse Aufklärung ging mit kosmo¬
politischen und demokratisch-fortschrittlichen Bestrebungen Hand in Hand, und
auch Gesetz und Sitte verloren, da sie aufs Engste mit dem Religions- und
Staatswesen zusammenhingen, ihren festen Halt. Die geistige Stellung und
materielle Blüthe Ioniens war dabei noch außerordentlich hoch, sodaß Alles,


in dessen Gewalt, und ihr Leben verfloß in der schon geschilderten, sich der
Öffentlichkeit fast ganz entziehenden Weise.

Wo wir in der Zeit vor Perikles Frauen im öffentlichen Gesellschafts¬
verkehr mit Männern finden, sind es fast ohne Ausnahme Hetären, d. h. Frauen,
die sich auf Kosten ihrer bürgerlichen Ehre und der darauf beruhenden Rechte,
wenn auch nicht immer unter Verletzung der Sittlichkeit von den herkömmlichen
Beschränkungen emancipirt hatten. Im eigentlichen Hellas wurde das oben
geschilderte ehrenfeste sociale Leben durch diese Frauen erst afficirt, als mit
dem Auftreten des neuen politischen und philosophischen Geistes nach der ge¬
waltigen Aufregung der Perserkriege auch neue moralische und sociale Ten¬
denzen sich Bahn brachen, die aber die Gesundheit des Volksgeistes bald unter¬
graben sollten. In erster Linie war es die geistige Hauptstadt von Hellas,
Athen, wo zu Perikles' Zeit eine Veränderung auf diesem Gebiete eintrat,
welche mit den modernen Ansichten über Rechte und Bestimmung der Frauen
mehr in Einklang steht. Es kamen jetzt Herren- und Damencirkel auf, in
denen geistreiche Konversation über den Urgrund des Seins, über die Thesen
des Anaxagoras und Gorgias, die Schöpfungen des Herodot und Phidias ge¬
macht wurde, und geniale und liebenswürdige Damen sammelten Schaaren
von jungen Löwen der ^öunesse nor6s um sich.

Freilich kam der erste Anstoß zu diesen „Fortschritten" von einer Seite
her, welche bisher von den ehrbaren Frauen von Hellas mit stiller Verachtung
und einigermaßen eifersüchtiger Entrüstung betrachtet worden war, d. h. von
dem emancipirten Theile der Frauen Ioniens.

An der reichgesegneten kleinasiatischen Weltküste, wo so vielfache Verkehrs-
anregnngen mit den günstigsten örtlichen Bedingungen zusammentrafen, um ein
reges materielles und geistiges Leben zu erzeugen, hatte anch der spekulative
Gedanke zuerst angefangen seinen voraussetzungslosen, von der Rücksicht auf
Bestehendes und Traditionelles losgelösten Pfaden nachzugehen. Die griechische
Philosophie war hier geboren worden und hatte durch Thales, Anciximander,
Tenophanes, Heraklit und Anaxagoras zu den folgenreichsten Ergebnissen ge¬
führt. Bestrebungen um praktische Nutzung des Gewonnenen, um allgemeine
Aufklärung und socialen Fortschritt schlössen sich daran an, und bald zeigte
sich der Boden Ioniens in bedenklicher Weise unterwühlt, die alten Satzungen
auf allen Lebensgebieten erschüttert. Religiöse Aufklärung ging mit kosmo¬
politischen und demokratisch-fortschrittlichen Bestrebungen Hand in Hand, und
auch Gesetz und Sitte verloren, da sie aufs Engste mit dem Religions- und
Staatswesen zusammenhingen, ihren festen Halt. Die geistige Stellung und
materielle Blüthe Ioniens war dabei noch außerordentlich hoch, sodaß Alles,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/303>, abgerufen am 01.07.2024.