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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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tritt. Wenigstens darf die Ueberraschung zu keiner Konzession verleiten. Er
komt, sit, empfilt wird nach einem Jahrzehnt verständlicher und gefälliger aus¬
sehen wie er kommt, sieht, empfiehlt. (Nicht unwahrscheinlich, aber schwerlich
die Art, wie der Verfasser ans Seite 150 Speicher, wählt, König, spricht,
Brücken, spät und überall geschrieben wissen will.) Dann treibt es uns zu dem
Grundsatze, Kundgebungen des Publikums, welche auf den Wahn hinauslaufen:
"Das sieht übel ans, läßt sich schlecht lesen" gar nicht zu berücksichtigen,
während dagegen rationelle praktische Wünsche die größte Beachtung verdienen.
Endlich aber und hauptsächlich die Ueberzeugung, daß nur eine fundamentale
Reform anzuempfehlen steht. Der Vorschlag, Einiges zu bessern, ist gut ge¬
meint, aber in Wirklichkeit Verderben bringend". (Verderben bringend? Warum
nur immer solchen Brustton? Und ist der wahre Fortschritt nicht eine Kette
von Kompromissen?) -- "Unleugbar bringt eine orthographische Reform reale
und ideale Unannehmlichkeiten für die Nation mit sich", "von unüberwind¬
lichen Schwierigkeiten aber darf und kann nicht die Rede sein. Solche Argu¬
mente des Kleinmuths verdienen nicht einmal den Zeitaufwand einer Diskussion;
man beantworte sie einfach durch den Hinweis auf die stetig entwickelte (also
doch nicht anf einmal in die Welt gesetzte) italienische Orthographie und auf
die Reform der spanischen und serbischen. Sollte das erstarkte Deutschland
weniger wagen und erreichen können als das schwache Spanien und das kleine
Serbien? Wir haben mit geringeren Hindernissen zu kämpfen als jene. So
trifft uns verdoppelter Tadel, wenn wir zaghaft schwanken. Jenen hätte man
achselzuckend sagen können: "Für euch ist es unmöglich, euch mangelt die Kraft",
-- wir aber haben keine Entschuldigung, es sei denn das Bekenntniß: Uns
mangelt der Muth!" (Wir glauben nicht, daß der Verfasser mit solchen auf
die leere Phrase Hinanslaufenden Aeußerungen seiner vielfach guten Sache
nützen wird.)

"Mit der Forderung einer fundamentalen Reform ist jedoch die Ausfüh¬
rung nicht zu verwechseln, -- die letztere darf und muß allmählich geschehen",
und zwar denkt der Verfasser sich den Gang derselben folgendermaßen. "Der
Staat sanktionirt die Gesetze und verordnet ihre Befolgung. Rücksichtlich der
Schule wird bestimmt, daß zunächst die Fibel und das erste Lesebuch unge¬
druckt werden. Mit dem Beginn eines Schuljahres fängt auch die Unterwei¬
sung nach dem verbesserten System an. Die neu eintretenden Schüler lernen
vorläufig keine andere Schreibung kennen als die natürliche. Finanziell wer¬
den also die Eltern von der Neuerung nicht berührt, und den Buchhändlern
ist die Neuerung ein halbes Jahr vorher anzuzeigen, damit sie keine weiteren
Lehrbücher mit .alter Orthographie drucken. Nach fünf oder sieben Jahren
darf kein altes Buch mehr gebraucht werden, weder in einer Privat- noch in


tritt. Wenigstens darf die Ueberraschung zu keiner Konzession verleiten. Er
komt, sit, empfilt wird nach einem Jahrzehnt verständlicher und gefälliger aus¬
sehen wie er kommt, sieht, empfiehlt. (Nicht unwahrscheinlich, aber schwerlich
die Art, wie der Verfasser ans Seite 150 Speicher, wählt, König, spricht,
Brücken, spät und überall geschrieben wissen will.) Dann treibt es uns zu dem
Grundsatze, Kundgebungen des Publikums, welche auf den Wahn hinauslaufen:
„Das sieht übel ans, läßt sich schlecht lesen" gar nicht zu berücksichtigen,
während dagegen rationelle praktische Wünsche die größte Beachtung verdienen.
Endlich aber und hauptsächlich die Ueberzeugung, daß nur eine fundamentale
Reform anzuempfehlen steht. Der Vorschlag, Einiges zu bessern, ist gut ge¬
meint, aber in Wirklichkeit Verderben bringend". (Verderben bringend? Warum
nur immer solchen Brustton? Und ist der wahre Fortschritt nicht eine Kette
von Kompromissen?) — „Unleugbar bringt eine orthographische Reform reale
und ideale Unannehmlichkeiten für die Nation mit sich", „von unüberwind¬
lichen Schwierigkeiten aber darf und kann nicht die Rede sein. Solche Argu¬
mente des Kleinmuths verdienen nicht einmal den Zeitaufwand einer Diskussion;
man beantworte sie einfach durch den Hinweis auf die stetig entwickelte (also
doch nicht anf einmal in die Welt gesetzte) italienische Orthographie und auf
die Reform der spanischen und serbischen. Sollte das erstarkte Deutschland
weniger wagen und erreichen können als das schwache Spanien und das kleine
Serbien? Wir haben mit geringeren Hindernissen zu kämpfen als jene. So
trifft uns verdoppelter Tadel, wenn wir zaghaft schwanken. Jenen hätte man
achselzuckend sagen können: „Für euch ist es unmöglich, euch mangelt die Kraft",
— wir aber haben keine Entschuldigung, es sei denn das Bekenntniß: Uns
mangelt der Muth!" (Wir glauben nicht, daß der Verfasser mit solchen auf
die leere Phrase Hinanslaufenden Aeußerungen seiner vielfach guten Sache
nützen wird.)

„Mit der Forderung einer fundamentalen Reform ist jedoch die Ausfüh¬
rung nicht zu verwechseln, — die letztere darf und muß allmählich geschehen",
und zwar denkt der Verfasser sich den Gang derselben folgendermaßen. „Der
Staat sanktionirt die Gesetze und verordnet ihre Befolgung. Rücksichtlich der
Schule wird bestimmt, daß zunächst die Fibel und das erste Lesebuch unge¬
druckt werden. Mit dem Beginn eines Schuljahres fängt auch die Unterwei¬
sung nach dem verbesserten System an. Die neu eintretenden Schüler lernen
vorläufig keine andere Schreibung kennen als die natürliche. Finanziell wer¬
den also die Eltern von der Neuerung nicht berührt, und den Buchhändlern
ist die Neuerung ein halbes Jahr vorher anzuzeigen, damit sie keine weiteren
Lehrbücher mit .alter Orthographie drucken. Nach fünf oder sieben Jahren
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/296>, abgerufen am 29.06.2024.