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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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geht sie ihrer Natur nach leicht in Einseitigkeit über, wie die gesammte
jetzige Sprachforschung: sie hält die Form und den Buchstaben für wichtiger
als den Laut und Begriff und hat die Abstammung zum Ziele, nicht die Be¬
deutung. Sie arbeitet für sich, statt für das Leben zu arbeiten". So wurde
ein Mittelglied nöthig, und dieses ist die Schule. Sie verbindet Wissenschaft
und Leben zu einem organischen Ganzen, zu einer Sphäre, und steht darum
dem einen wie dem andern Pole nahe. So schätzt sie den Buchstaben, aber
nur als Diener des Lautes, und den Laut als Diener des Begriffs und stellt
die sichere Erfassung des Seins, nicht der Abstammung, der Entstehung als
Ziel für das gesammte Streben auf." "Das Leben, die Praxis, das Volk
wird also unbedenklich und mit tiefbegründeten Rechte den Schulmännern die
einflußreichste Stellung einräumen."

Damit ist die Frage theoretisch erledigt. Aber auch die Erfahrung beant¬
wortet sie wie oben. Selbst Jakob Grimm, der große Denker und unermüd¬
liche Forscher, entging der Einseitigkeit und Inkonsequenz nicht. Er kannte das
Altdeutsche, aber das "abgeblichne" Neudeutsche nicht hinlänglich und hielt jenes für
das eigentliche Altdeutsch. Er bemerkte die Mängel unsrer Rechtschreibung und schlug
richtige, aber auch unrichtige Mittel zur Abhilfe vor, ja er fand sogar manche Gesetze
auf, die er als nothwendig und natürlich hinstellte, aber nicht befolgte, sobald
sie den gelehrten Bestrebungen entgegenstanden. Er wollte die Abstammung
und nur nebenbei den Laut des Wortes darstellen, das aber stand nicht nur
mit dem von ihm aufgefundenen Gesetze, so zu schreiben, wie gesprochen wird,
sondern vornehmlich mit dem Bedürfnisse der Praktiker, der Nation im Wider¬
spruch und barg den Todeskeim seiner Reform in sich. Die große Mehrzahl
der Schulmänner, welche nicht zugleich gelehrte Sprachforscher waren, verhielt
sich abwehrend gegen dieselbe und beugte sich nur vorübergehend der äußern
Gewalt, z. B. in Hannover und Oesterreich. Allein mit Reformvorschlägen
wagten sich nur Wenige hervor, und wo es geschah, wurden sie durch die üb¬
lichen Fußtritte und Keulenschläge der zu allen Zeiten dünkelvollen und eigen¬
sinnigen gelehrten Kritik sowie durch Maßregelungen der Behörden zu Boden
geworfen. Dreißig Jahre lang schwebte Deutschland in der Gefahr, eine
allmählich toll werdende Orthographie zu bekommen. Daß dies nicht geschah,
ist vorzüglich R. v. Raumer's Verdienst, der stets die Fahne des Fortschritts
hochhielt und das Wohl des Volkes im Auge hatte, und dem endlich in ge¬
rechter Würdigung seiner Bestrebungen die preußische Regierung die Ausarbeitung
eines Reformplans auftrug, welcher später der bezüglichen Konferenz vorgelegt
wurde. Damit war der Nation die Gewißheit gegeben, daß auch in dieser
Beziehung kein Rückschritt zu befürchten stehe, und diese Hoffnung hat sich an¬
nähernd erfüllt. Was aber muß nach unsrer Schrift weiter geschehen?


geht sie ihrer Natur nach leicht in Einseitigkeit über, wie die gesammte
jetzige Sprachforschung: sie hält die Form und den Buchstaben für wichtiger
als den Laut und Begriff und hat die Abstammung zum Ziele, nicht die Be¬
deutung. Sie arbeitet für sich, statt für das Leben zu arbeiten". So wurde
ein Mittelglied nöthig, und dieses ist die Schule. Sie verbindet Wissenschaft
und Leben zu einem organischen Ganzen, zu einer Sphäre, und steht darum
dem einen wie dem andern Pole nahe. So schätzt sie den Buchstaben, aber
nur als Diener des Lautes, und den Laut als Diener des Begriffs und stellt
die sichere Erfassung des Seins, nicht der Abstammung, der Entstehung als
Ziel für das gesammte Streben auf." „Das Leben, die Praxis, das Volk
wird also unbedenklich und mit tiefbegründeten Rechte den Schulmännern die
einflußreichste Stellung einräumen."

Damit ist die Frage theoretisch erledigt. Aber auch die Erfahrung beant¬
wortet sie wie oben. Selbst Jakob Grimm, der große Denker und unermüd¬
liche Forscher, entging der Einseitigkeit und Inkonsequenz nicht. Er kannte das
Altdeutsche, aber das „abgeblichne" Neudeutsche nicht hinlänglich und hielt jenes für
das eigentliche Altdeutsch. Er bemerkte die Mängel unsrer Rechtschreibung und schlug
richtige, aber auch unrichtige Mittel zur Abhilfe vor, ja er fand sogar manche Gesetze
auf, die er als nothwendig und natürlich hinstellte, aber nicht befolgte, sobald
sie den gelehrten Bestrebungen entgegenstanden. Er wollte die Abstammung
und nur nebenbei den Laut des Wortes darstellen, das aber stand nicht nur
mit dem von ihm aufgefundenen Gesetze, so zu schreiben, wie gesprochen wird,
sondern vornehmlich mit dem Bedürfnisse der Praktiker, der Nation im Wider¬
spruch und barg den Todeskeim seiner Reform in sich. Die große Mehrzahl
der Schulmänner, welche nicht zugleich gelehrte Sprachforscher waren, verhielt
sich abwehrend gegen dieselbe und beugte sich nur vorübergehend der äußern
Gewalt, z. B. in Hannover und Oesterreich. Allein mit Reformvorschlägen
wagten sich nur Wenige hervor, und wo es geschah, wurden sie durch die üb¬
lichen Fußtritte und Keulenschläge der zu allen Zeiten dünkelvollen und eigen¬
sinnigen gelehrten Kritik sowie durch Maßregelungen der Behörden zu Boden
geworfen. Dreißig Jahre lang schwebte Deutschland in der Gefahr, eine
allmählich toll werdende Orthographie zu bekommen. Daß dies nicht geschah,
ist vorzüglich R. v. Raumer's Verdienst, der stets die Fahne des Fortschritts
hochhielt und das Wohl des Volkes im Auge hatte, und dem endlich in ge¬
rechter Würdigung seiner Bestrebungen die preußische Regierung die Ausarbeitung
eines Reformplans auftrug, welcher später der bezüglichen Konferenz vorgelegt
wurde. Damit war der Nation die Gewißheit gegeben, daß auch in dieser
Beziehung kein Rückschritt zu befürchten stehe, und diese Hoffnung hat sich an¬
nähernd erfüllt. Was aber muß nach unsrer Schrift weiter geschehen?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/294>, abgerufen am 03.07.2024.