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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Unsere deutsche Druckschrift ist schöner als die europäische, und lernen würde
mau sie in den Schulen immer müssen, da man die vorhandene Literatur erst
im Laufe von vielen Jahrzehnten und die öffentlichen Bibliotheken gar nicht
Andrücken könnte.) In Betreff der Quantität kommt der Verfasser zu folgenden
Sätzen: Die offene Silbe ist lang, die geschlossene kurz. Die Länge bedarf
in der offenen Silbe keiner Bezeichnung, und in der geschlossenen wird sie nicht
durch Buchstaben, sondern durch das Lüngezeichen (--) dargestellt. Dehnuugs-
laute gibt es in der deutschen Sprache nicht. Das Dehnungszeichen ist weg¬
zulassen, wo kein Irrthum stattfinden kann, also z. B. bei Tal, Tor, Fuh, Lid,
Stab, Krebs. Es wird gesetzt bei Bär und Ban (für die Kürze bedarf es
keines Zeichens) Her und Her. Kam und kan dagegen bedarf nur Anfangs
und später nur in seltenen Fällen der Bezeichnung, da diese und ähnliche
Wörter verschiedenen Redetheilen angehören und im Satze also an ihrer Stelle
erkannt werden können. Wie groß die Ersparnis; an Zeit und Raum durch
Weglassung der Dehnungslaute ist, zeigt schon ein flüchtiger Blick. Die Kürze
wird nur durch Schließung der Silbe angedeutet; Doppelkonsonanten in der¬
selben Silbe gibt es nicht. Zwei gleiche Konsonanten nebeneinander gehören
stets zu zwei verschiedenen Silben. Man schreibe also künftig from, Sir, Bet,
Rot, bei Verlängerung des Wortes aber Fromme, Sinne, Betten, Rolle. Auch
die Verden unterliegen demselben Gesetze. Wir sollten also nicht fällt, kommt,
nenut, scharrt, weckt, schafft, faßt, sitzt, sondern fält, komt, nent, schart, wekt,
schaft, fast, sizt, wohl aber fallen, kommen, nennen, scharren u. s. w. schreiben.

Wir könne", ums dann über Interpunktion, Accent, Fremdwörter (hier gibt er
die selbstverständliche Regel: jede ganze Germanisirung ist sorgfältig zu erhalten,
mit dem Zusatz: und die halbe allmählich in eine ganze zu verwandeln) gesagt
wird, nicht weiter verfolgen. Dagegen wollen wir noch mit einiger Ausführlich¬
keit mittheilen, wie Herr Fricke sich die Ausführung seiner Reform denkt. Die
dabei in Frage kommenden Personen sind entweder Grammatiker (Gelehrte
und Schulmänner) oder Praktiker (Schreibende und Lesende). Alle müssen ge¬
hört werden. Wem aber gebührt der größte Einfluß? Den Praktikern fehlt
die eingehende Kenntniß der Einzelnheiten und der Ueberblick über das Ganze.
Das Belehren ist also Sache der Grammatiker, doch dürfen sie dabei keinen
Augenblick die Bedürfnisse der Praxis aus den Augen verlieren; denn eine
unpraktische Rechtschreibung steht jedenfalls tief unter einer unwissenschaftlichen.
Zur Vermeidung dieser Klippe aber sind die Sprachforscher einerseits und die
Schulmänner andrerseits nicht gleich gut geeignet. "Die gelehrte Sprachforschung
(hier unterschreiben wir jedes Wort des Verfassers) hat überhaupt nur die Sache,
nicht deren Anwendung im Ange und tritt darum nicht selten in direkten
Widerspruch gegen die Forderung der Praxis, des Lebens; im Besondern aber


Grenzboten II. 1877. 37

Unsere deutsche Druckschrift ist schöner als die europäische, und lernen würde
mau sie in den Schulen immer müssen, da man die vorhandene Literatur erst
im Laufe von vielen Jahrzehnten und die öffentlichen Bibliotheken gar nicht
Andrücken könnte.) In Betreff der Quantität kommt der Verfasser zu folgenden
Sätzen: Die offene Silbe ist lang, die geschlossene kurz. Die Länge bedarf
in der offenen Silbe keiner Bezeichnung, und in der geschlossenen wird sie nicht
durch Buchstaben, sondern durch das Lüngezeichen (—) dargestellt. Dehnuugs-
laute gibt es in der deutschen Sprache nicht. Das Dehnungszeichen ist weg¬
zulassen, wo kein Irrthum stattfinden kann, also z. B. bei Tal, Tor, Fuh, Lid,
Stab, Krebs. Es wird gesetzt bei Bär und Ban (für die Kürze bedarf es
keines Zeichens) Her und Her. Kam und kan dagegen bedarf nur Anfangs
und später nur in seltenen Fällen der Bezeichnung, da diese und ähnliche
Wörter verschiedenen Redetheilen angehören und im Satze also an ihrer Stelle
erkannt werden können. Wie groß die Ersparnis; an Zeit und Raum durch
Weglassung der Dehnungslaute ist, zeigt schon ein flüchtiger Blick. Die Kürze
wird nur durch Schließung der Silbe angedeutet; Doppelkonsonanten in der¬
selben Silbe gibt es nicht. Zwei gleiche Konsonanten nebeneinander gehören
stets zu zwei verschiedenen Silben. Man schreibe also künftig from, Sir, Bet,
Rot, bei Verlängerung des Wortes aber Fromme, Sinne, Betten, Rolle. Auch
die Verden unterliegen demselben Gesetze. Wir sollten also nicht fällt, kommt,
nenut, scharrt, weckt, schafft, faßt, sitzt, sondern fält, komt, nent, schart, wekt,
schaft, fast, sizt, wohl aber fallen, kommen, nennen, scharren u. s. w. schreiben.

Wir könne», ums dann über Interpunktion, Accent, Fremdwörter (hier gibt er
die selbstverständliche Regel: jede ganze Germanisirung ist sorgfältig zu erhalten,
mit dem Zusatz: und die halbe allmählich in eine ganze zu verwandeln) gesagt
wird, nicht weiter verfolgen. Dagegen wollen wir noch mit einiger Ausführlich¬
keit mittheilen, wie Herr Fricke sich die Ausführung seiner Reform denkt. Die
dabei in Frage kommenden Personen sind entweder Grammatiker (Gelehrte
und Schulmänner) oder Praktiker (Schreibende und Lesende). Alle müssen ge¬
hört werden. Wem aber gebührt der größte Einfluß? Den Praktikern fehlt
die eingehende Kenntniß der Einzelnheiten und der Ueberblick über das Ganze.
Das Belehren ist also Sache der Grammatiker, doch dürfen sie dabei keinen
Augenblick die Bedürfnisse der Praxis aus den Augen verlieren; denn eine
unpraktische Rechtschreibung steht jedenfalls tief unter einer unwissenschaftlichen.
Zur Vermeidung dieser Klippe aber sind die Sprachforscher einerseits und die
Schulmänner andrerseits nicht gleich gut geeignet. „Die gelehrte Sprachforschung
(hier unterschreiben wir jedes Wort des Verfassers) hat überhaupt nur die Sache,
nicht deren Anwendung im Ange und tritt darum nicht selten in direkten
Widerspruch gegen die Forderung der Praxis, des Lebens; im Besondern aber


Grenzboten II. 1877. 37
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/293>, abgerufen am 22.07.2024.