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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Gebrauch der Sprache im Denken und Handeln eines Volkes hervorgebracht
werden und sich den vorhandenen Bildungen anfügen wie in der menschlichen
Seele die neuen Vorstellungen den bereits gebildeten Reihen und Komplexen.
Natürlich macht das schon Bestehende als ein fester Organismus seinen Ein¬
fluß auf das Hinzutretende geltend, entweder zurückstoßend oder umformend:
neue Begriffe (Wörter) bringen neuen Stoff, müssen sich aber in die Form
der alten fügen. Auf diese Weise gewinnt der vernunftlose Usus Gesetzmäßig¬
keit, gleichsam eine höhere Gewalt, die wir durch Sprachgeist bezeichnen." Der
Grammatiker muß nun jene von ihm durch Beobachtung des Sprachgeistes
erkannten Zustände als Gesetze auffassen, die Gesetze dadurch, daß er sie in
präcise Worte kleidet, als Regeln zur Erscheinung bringen und so den Usus
antreiben, nicht bloß dem Gefühle, sondern dem Verstände zu folgen. Solche
Regeln sind dem Verfasser:

"Der Laut ist der vollkommenste, welcher dem Begriffe am Vollkommensten
dient, weil die Sprache keinen andern Beruf hat, als unsere Gedanken hörbar
darzustellen. Zur Vollkommenheit aber gehört Bestimmtheit, Regelmäßigkeit,
Kürze, Wohllaut. Der Laut ist richtig: im Allgemeinen, wenn er ans den
natürlichen Artikulationsstellen gebildet, und im Besonderen, wenn er von der
Nation nach Form und Bedeutung als richtig anerkannt wird. Für die gegen¬
wärtige Generation ist also nur die gegenwärtige Gestaltung der Sprache das
richtige Geistesorgan. Der Laut ist organisch, wenn er zu den gegenwärtigen
Formen der Sprache in einem richtigen Verhältnisse steht. Sein Verhältniß
zu dem ehemaligen Laute hat für die Gegenwart nur historischen Werth.
Wenn die jetzige Generation über einen Laut nicht einig ist, so entscheidet die
Majorität, wenn sonst Alles gleich ist, die Minorität aber, wenn sie entweder^
den Gang des Sprachgeistes für sich hat, oder organischer ist als die über¬
wiegende Lautform, oder zu größerer Bestimmtheit, Regelmäßigkeit, Kürze und
größerem Wohllaut führt."

Wie der Verfasser diese bestimmenden Mittel im weiteren Verlaufe seiner
Schrift auf die Laute anwendet, mögen zwei Beispiele aus Dem, was er über
die Konsonanten sagt, und zwei aus Dem, was er in Betreff der Vokale
wünscht, zeigen.

"Den meisten süddeutschen Dialekten wäre damit gedient, wenn wir die
Ausländer im Amiant ganz fallen ließen und nur b, d, g beibehielten, Badier
statt Papier, grünen statt krumm. Andere möchten lieber die Anlauter ent¬
fernen und überall p, t, k sprechen. Allein die Majorität hat sich längst für
den vermischten Gebrauch der Tennis und Media entschieden und ihr Votum
durch die Schrift rechtskräftig gemacht. Auch hat hier der Usus das Gesetz
der Vollkommenheit für sich, da wir die organisch allerdings nicht ganz richtige


Gebrauch der Sprache im Denken und Handeln eines Volkes hervorgebracht
werden und sich den vorhandenen Bildungen anfügen wie in der menschlichen
Seele die neuen Vorstellungen den bereits gebildeten Reihen und Komplexen.
Natürlich macht das schon Bestehende als ein fester Organismus seinen Ein¬
fluß auf das Hinzutretende geltend, entweder zurückstoßend oder umformend:
neue Begriffe (Wörter) bringen neuen Stoff, müssen sich aber in die Form
der alten fügen. Auf diese Weise gewinnt der vernunftlose Usus Gesetzmäßig¬
keit, gleichsam eine höhere Gewalt, die wir durch Sprachgeist bezeichnen." Der
Grammatiker muß nun jene von ihm durch Beobachtung des Sprachgeistes
erkannten Zustände als Gesetze auffassen, die Gesetze dadurch, daß er sie in
präcise Worte kleidet, als Regeln zur Erscheinung bringen und so den Usus
antreiben, nicht bloß dem Gefühle, sondern dem Verstände zu folgen. Solche
Regeln sind dem Verfasser:

„Der Laut ist der vollkommenste, welcher dem Begriffe am Vollkommensten
dient, weil die Sprache keinen andern Beruf hat, als unsere Gedanken hörbar
darzustellen. Zur Vollkommenheit aber gehört Bestimmtheit, Regelmäßigkeit,
Kürze, Wohllaut. Der Laut ist richtig: im Allgemeinen, wenn er ans den
natürlichen Artikulationsstellen gebildet, und im Besonderen, wenn er von der
Nation nach Form und Bedeutung als richtig anerkannt wird. Für die gegen¬
wärtige Generation ist also nur die gegenwärtige Gestaltung der Sprache das
richtige Geistesorgan. Der Laut ist organisch, wenn er zu den gegenwärtigen
Formen der Sprache in einem richtigen Verhältnisse steht. Sein Verhältniß
zu dem ehemaligen Laute hat für die Gegenwart nur historischen Werth.
Wenn die jetzige Generation über einen Laut nicht einig ist, so entscheidet die
Majorität, wenn sonst Alles gleich ist, die Minorität aber, wenn sie entweder^
den Gang des Sprachgeistes für sich hat, oder organischer ist als die über¬
wiegende Lautform, oder zu größerer Bestimmtheit, Regelmäßigkeit, Kürze und
größerem Wohllaut führt."

Wie der Verfasser diese bestimmenden Mittel im weiteren Verlaufe seiner
Schrift auf die Laute anwendet, mögen zwei Beispiele aus Dem, was er über
die Konsonanten sagt, und zwei aus Dem, was er in Betreff der Vokale
wünscht, zeigen.

„Den meisten süddeutschen Dialekten wäre damit gedient, wenn wir die
Ausländer im Amiant ganz fallen ließen und nur b, d, g beibehielten, Badier
statt Papier, grünen statt krumm. Andere möchten lieber die Anlauter ent¬
fernen und überall p, t, k sprechen. Allein die Majorität hat sich längst für
den vermischten Gebrauch der Tennis und Media entschieden und ihr Votum
durch die Schrift rechtskräftig gemacht. Auch hat hier der Usus das Gesetz
der Vollkommenheit für sich, da wir die organisch allerdings nicht ganz richtige


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[0288] Gebrauch der Sprache im Denken und Handeln eines Volkes hervorgebracht werden und sich den vorhandenen Bildungen anfügen wie in der menschlichen Seele die neuen Vorstellungen den bereits gebildeten Reihen und Komplexen. Natürlich macht das schon Bestehende als ein fester Organismus seinen Ein¬ fluß auf das Hinzutretende geltend, entweder zurückstoßend oder umformend: neue Begriffe (Wörter) bringen neuen Stoff, müssen sich aber in die Form der alten fügen. Auf diese Weise gewinnt der vernunftlose Usus Gesetzmäßig¬ keit, gleichsam eine höhere Gewalt, die wir durch Sprachgeist bezeichnen." Der Grammatiker muß nun jene von ihm durch Beobachtung des Sprachgeistes erkannten Zustände als Gesetze auffassen, die Gesetze dadurch, daß er sie in präcise Worte kleidet, als Regeln zur Erscheinung bringen und so den Usus antreiben, nicht bloß dem Gefühle, sondern dem Verstände zu folgen. Solche Regeln sind dem Verfasser: „Der Laut ist der vollkommenste, welcher dem Begriffe am Vollkommensten dient, weil die Sprache keinen andern Beruf hat, als unsere Gedanken hörbar darzustellen. Zur Vollkommenheit aber gehört Bestimmtheit, Regelmäßigkeit, Kürze, Wohllaut. Der Laut ist richtig: im Allgemeinen, wenn er ans den natürlichen Artikulationsstellen gebildet, und im Besonderen, wenn er von der Nation nach Form und Bedeutung als richtig anerkannt wird. Für die gegen¬ wärtige Generation ist also nur die gegenwärtige Gestaltung der Sprache das richtige Geistesorgan. Der Laut ist organisch, wenn er zu den gegenwärtigen Formen der Sprache in einem richtigen Verhältnisse steht. Sein Verhältniß zu dem ehemaligen Laute hat für die Gegenwart nur historischen Werth. Wenn die jetzige Generation über einen Laut nicht einig ist, so entscheidet die Majorität, wenn sonst Alles gleich ist, die Minorität aber, wenn sie entweder^ den Gang des Sprachgeistes für sich hat, oder organischer ist als die über¬ wiegende Lautform, oder zu größerer Bestimmtheit, Regelmäßigkeit, Kürze und größerem Wohllaut führt." Wie der Verfasser diese bestimmenden Mittel im weiteren Verlaufe seiner Schrift auf die Laute anwendet, mögen zwei Beispiele aus Dem, was er über die Konsonanten sagt, und zwei aus Dem, was er in Betreff der Vokale wünscht, zeigen. „Den meisten süddeutschen Dialekten wäre damit gedient, wenn wir die Ausländer im Amiant ganz fallen ließen und nur b, d, g beibehielten, Badier statt Papier, grünen statt krumm. Andere möchten lieber die Anlauter ent¬ fernen und überall p, t, k sprechen. Allein die Majorität hat sich längst für den vermischten Gebrauch der Tennis und Media entschieden und ihr Votum durch die Schrift rechtskräftig gemacht. Auch hat hier der Usus das Gesetz der Vollkommenheit für sich, da wir die organisch allerdings nicht ganz richtige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/288>, abgerufen am 01.07.2024.