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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Durchkreuzt wird endlich diese Sprachverwirrung noch durch Verschiedenheiten
in der Quantität und im Accent. In Niedersachsen werden Glas, Gras, Bad,
Arzt, das, an, von, Stab, Hof kurz, dagegen Magd, Jagd, Spaß, aß, Krebs,
Nische, Städte, spuken lang ausgesprochen, in Franken dehnt man diese Kürzen
und verkürzt die Längen, was theilweise auch in Obersachsen der Fall ist. Im
Fränkischen legt mau bei dem Worte Abtheilung den Ton auf die mittelste Silbe,
und in Süddeutschland wird in Uniform, Chaussee, Johann, Philippi, Georg
die erste accentuirt.

Alles das aber gilt nicht von dem eigentlichen Volksdialekte, sondern vom
Hochdeutsch der Gebildeten, welches allerdings von jenem durchdrungen wird.
Ja selbst die Grammatiker stehen unter der Herrschaft der Dialekte. Becker
gibt als allgemein deutsche Aussprache an: offnes e, dem ü ähnlich, findet sich
in leben, lesen, nehmen, doch nicht in Leben, während man im ganzen Norden
mit Einschluß Obersachsens und Thüringens auch Laden sagt. Den langen
Vokal in Arzt verlangen Becker, Götzinger und Sanders. Bezzenberger will
Tag und Bad kurz gesprochen wissen, Vilmar dagegen lang. Götzinger lehrt:
"In allen Mundarten sind die Laute des e (ä und eh) unterschieden; er wußte
also nicht, daß man in Westfranken jedes e und sogar das ä, z. B. in Jäger
unterschiedslos wie eh ausspricht. Leber, dessen Aussprache "Lader" Becker
für provinzielle Verderbung hält, will Götzinger wie Lader ausgesprochen
haben. Hermes verzeichnet Wuchs, Quarz, Flötz als Längen, Götzinger auch
Warze, im Norden aber lauten alle diese Worte meist kurz. Gottsch sagt, ce
klinge in Meer, Theer, Heer, Speer, Schmeer, Beere, Beet und selbst leer wie
ä, während man in Hannover und Braunschweig in diesen Worten eh spricht.
Linnig wundert sich, daß man Haken, Spuk, blöken, Laken, erschrak, Ekel und
Scharteke nicht mit et schreibt, da der Vokal in ihnen ja kurz sei.

Es steht also fest, daß wir auch auf diesem Gebiete keine Einheit haben.
Das Richtigsprechen muß erst festgestellt werden, ehe man sagen kann: "Schreibe,
wie Du sprichst." Wie aber ist das zu machen? Eine absolut gebietende
Akademie, von welcher die Reform ausgehen könnte, haben wir nicht. Die
Umgestaltung und Feststellung der gegenwärtigen Lautsprache kann nur durch
den Grammatiker geschehen, der als Richter nach den bestehenden Gesetzen -- nicht
bloß nach dem Usus -- zu entscheiden hat, die er von dem Sprachgeiste em¬
pfängt, wenn er dessen Wirken beobachtet. Was aber ist der Sprachgeist?
"In der Sprache bilden sich wie in jedem Organismus zweckentsprechende Zu¬
stände, die, in den einzelnen Sprachen individuell verschieden, den neu hinzutre¬
tender Elementen als Norm dienen und mit der Bewegung zusammen den
Charakter und das Leben der Sprache ausmachen. Unter Bewegung, aber
verstehe" wir die kontinuirlichem Veränderungen, welche durch den täglichen


Durchkreuzt wird endlich diese Sprachverwirrung noch durch Verschiedenheiten
in der Quantität und im Accent. In Niedersachsen werden Glas, Gras, Bad,
Arzt, das, an, von, Stab, Hof kurz, dagegen Magd, Jagd, Spaß, aß, Krebs,
Nische, Städte, spuken lang ausgesprochen, in Franken dehnt man diese Kürzen
und verkürzt die Längen, was theilweise auch in Obersachsen der Fall ist. Im
Fränkischen legt mau bei dem Worte Abtheilung den Ton auf die mittelste Silbe,
und in Süddeutschland wird in Uniform, Chaussee, Johann, Philippi, Georg
die erste accentuirt.

Alles das aber gilt nicht von dem eigentlichen Volksdialekte, sondern vom
Hochdeutsch der Gebildeten, welches allerdings von jenem durchdrungen wird.
Ja selbst die Grammatiker stehen unter der Herrschaft der Dialekte. Becker
gibt als allgemein deutsche Aussprache an: offnes e, dem ü ähnlich, findet sich
in leben, lesen, nehmen, doch nicht in Leben, während man im ganzen Norden
mit Einschluß Obersachsens und Thüringens auch Laden sagt. Den langen
Vokal in Arzt verlangen Becker, Götzinger und Sanders. Bezzenberger will
Tag und Bad kurz gesprochen wissen, Vilmar dagegen lang. Götzinger lehrt:
„In allen Mundarten sind die Laute des e (ä und eh) unterschieden; er wußte
also nicht, daß man in Westfranken jedes e und sogar das ä, z. B. in Jäger
unterschiedslos wie eh ausspricht. Leber, dessen Aussprache „Lader" Becker
für provinzielle Verderbung hält, will Götzinger wie Lader ausgesprochen
haben. Hermes verzeichnet Wuchs, Quarz, Flötz als Längen, Götzinger auch
Warze, im Norden aber lauten alle diese Worte meist kurz. Gottsch sagt, ce
klinge in Meer, Theer, Heer, Speer, Schmeer, Beere, Beet und selbst leer wie
ä, während man in Hannover und Braunschweig in diesen Worten eh spricht.
Linnig wundert sich, daß man Haken, Spuk, blöken, Laken, erschrak, Ekel und
Scharteke nicht mit et schreibt, da der Vokal in ihnen ja kurz sei.

Es steht also fest, daß wir auch auf diesem Gebiete keine Einheit haben.
Das Richtigsprechen muß erst festgestellt werden, ehe man sagen kann: „Schreibe,
wie Du sprichst." Wie aber ist das zu machen? Eine absolut gebietende
Akademie, von welcher die Reform ausgehen könnte, haben wir nicht. Die
Umgestaltung und Feststellung der gegenwärtigen Lautsprache kann nur durch
den Grammatiker geschehen, der als Richter nach den bestehenden Gesetzen — nicht
bloß nach dem Usus — zu entscheiden hat, die er von dem Sprachgeiste em¬
pfängt, wenn er dessen Wirken beobachtet. Was aber ist der Sprachgeist?
»In der Sprache bilden sich wie in jedem Organismus zweckentsprechende Zu¬
stände, die, in den einzelnen Sprachen individuell verschieden, den neu hinzutre¬
tender Elementen als Norm dienen und mit der Bewegung zusammen den
Charakter und das Leben der Sprache ausmachen. Unter Bewegung, aber
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[0287] Durchkreuzt wird endlich diese Sprachverwirrung noch durch Verschiedenheiten in der Quantität und im Accent. In Niedersachsen werden Glas, Gras, Bad, Arzt, das, an, von, Stab, Hof kurz, dagegen Magd, Jagd, Spaß, aß, Krebs, Nische, Städte, spuken lang ausgesprochen, in Franken dehnt man diese Kürzen und verkürzt die Längen, was theilweise auch in Obersachsen der Fall ist. Im Fränkischen legt mau bei dem Worte Abtheilung den Ton auf die mittelste Silbe, und in Süddeutschland wird in Uniform, Chaussee, Johann, Philippi, Georg die erste accentuirt. Alles das aber gilt nicht von dem eigentlichen Volksdialekte, sondern vom Hochdeutsch der Gebildeten, welches allerdings von jenem durchdrungen wird. Ja selbst die Grammatiker stehen unter der Herrschaft der Dialekte. Becker gibt als allgemein deutsche Aussprache an: offnes e, dem ü ähnlich, findet sich in leben, lesen, nehmen, doch nicht in Leben, während man im ganzen Norden mit Einschluß Obersachsens und Thüringens auch Laden sagt. Den langen Vokal in Arzt verlangen Becker, Götzinger und Sanders. Bezzenberger will Tag und Bad kurz gesprochen wissen, Vilmar dagegen lang. Götzinger lehrt: „In allen Mundarten sind die Laute des e (ä und eh) unterschieden; er wußte also nicht, daß man in Westfranken jedes e und sogar das ä, z. B. in Jäger unterschiedslos wie eh ausspricht. Leber, dessen Aussprache „Lader" Becker für provinzielle Verderbung hält, will Götzinger wie Lader ausgesprochen haben. Hermes verzeichnet Wuchs, Quarz, Flötz als Längen, Götzinger auch Warze, im Norden aber lauten alle diese Worte meist kurz. Gottsch sagt, ce klinge in Meer, Theer, Heer, Speer, Schmeer, Beere, Beet und selbst leer wie ä, während man in Hannover und Braunschweig in diesen Worten eh spricht. Linnig wundert sich, daß man Haken, Spuk, blöken, Laken, erschrak, Ekel und Scharteke nicht mit et schreibt, da der Vokal in ihnen ja kurz sei. Es steht also fest, daß wir auch auf diesem Gebiete keine Einheit haben. Das Richtigsprechen muß erst festgestellt werden, ehe man sagen kann: „Schreibe, wie Du sprichst." Wie aber ist das zu machen? Eine absolut gebietende Akademie, von welcher die Reform ausgehen könnte, haben wir nicht. Die Umgestaltung und Feststellung der gegenwärtigen Lautsprache kann nur durch den Grammatiker geschehen, der als Richter nach den bestehenden Gesetzen — nicht bloß nach dem Usus — zu entscheiden hat, die er von dem Sprachgeiste em¬ pfängt, wenn er dessen Wirken beobachtet. Was aber ist der Sprachgeist? »In der Sprache bilden sich wie in jedem Organismus zweckentsprechende Zu¬ stände, die, in den einzelnen Sprachen individuell verschieden, den neu hinzutre¬ tender Elementen als Norm dienen und mit der Bewegung zusammen den Charakter und das Leben der Sprache ausmachen. Unter Bewegung, aber verstehe» wir die kontinuirlichem Veränderungen, welche durch den täglichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/287>, abgerufen am 29.06.2024.