Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.Die Sprachperiode vor dem sechzehnten Jahrhunderte ist als die Zeit Zeigt sich nun schon in der Aussprache der Konsonanten eine große Zer¬ Die Sprachperiode vor dem sechzehnten Jahrhunderte ist als die Zeit Zeigt sich nun schon in der Aussprache der Konsonanten eine große Zer¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0286" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137987"/> <p xml:id="ID_803"> Die Sprachperiode vor dem sechzehnten Jahrhunderte ist als die Zeit<lb/> der Dialekte zu bezeichnen. Das sogenannte Mittelhochdeutsche ist nur ein<lb/> Kvllektivucune für die schwäbischen, also nicht einmal für alle oberdeutschen<lb/> Mundarten. Die Gesammtsprache, Hochdeutsch genannt, weil sie über allen<lb/> Dialekten schwebt, ist nicht viel älter als dreihundert Jahre. Vorhanden aber<lb/> ist sie, genau genommen, noch nicht; denn wir schreiben zwar, sprechen aber<lb/> nicht übereinstimmend. Auch der gebildete norddeutsche sagt sprechen, stehen,<lb/> der Süddeutsche dagegen schprecheu, Schlehen. Der Franke und Obersachse<lb/> spricht nur im Amiant schp und fest, im Inlande sy und se und im Auslande<lb/> uach r fest, also Geschpenster, erhebt, Wurscht, der Schwabe und Alemanne da¬<lb/> gegen überall, also Geschpenschter, Geischt, Finschterniß. Am Unterrhein und<lb/> im Brandenburgischen, desgleichen an der Mittelelbe von Jüterbogk bis Delitzsch<lb/> hört man in Kirche und Schule Jade, Jott, jut, von Göttingen bis ins Ber¬<lb/> gische theils Chott, ahnt, chroß, theils Djott, djut, djroß, in manchen Orten<lb/> Niedersachsens Gabe, gut, groß neben jeher, jießen, Sieje, und während man<lb/> in Schlesien Wek, Berg, Komik und Sick ^ sagt, lauten diese Worte in Ober¬<lb/> sachsen Wend, Bernb, Könich, und siech. In Schwaben wird zwischen g und<lb/> k nicht unterschieden, und bekränzen klingt wie begrenzen, begleiten wie beklei¬<lb/> den. In Baiern und Schwaben wird Pf deutlich ausgesprochen, in Westfrauken<lb/> aber Hort man nur das P (Pesfer) und in Niedersachsen nur das f (Feffer).<lb/> Im Norden haben t und p den harten Laut, im Süden klingen sie wie d<lb/> und b. Auslautendes t wirft man am Niederrhein meist fort und sagt z. B.<lb/> statt Obst Ohs und statt gebracht gebrach, wogegen es in Sachsen nur bei ist<lb/> und nicht weggelassen wird. Die hochdeutsche Sprache nimmt an, daß in den<lb/> Stämmen es vor s wie k lautet, also Lachs wie Laks, Büchse wie Bükse aus-<lb/> zusprechen ist, wie es dagegen, wenn das s durch Flexion dazutritt, wie in des<lb/> Dachs, des Buchs, der Nächste. In Franken dagegen sagt man der Rathke,<lb/> ja sogar polst statt pochst. In Norden hat das s den schwachen und das ß<lb/> den starken Zischlaut, im Süden kennt man keinen Unterschied zwischen den<lb/> beiden Buchstaben.</p><lb/> <p xml:id="ID_804" next="#ID_805"> Zeigt sich nun schon in der Aussprache der Konsonanten eine große Zer¬<lb/> splitterung, so ist dies bei den Vokalen noch viel mehr der Fall. Das a tönt<lb/> in jedem deutschen Sprachgebiete anders (geradezu abscheulich das lange a in<lb/> der Stadt Braunschweig und hier und da in dem benachbarten Hannover), das<lb/> o variirt vom a bis zum u, das i nähert sich vielfach dem ü, an lautet aa,<lb/> ac und ac, von einem Unterschied zwischen en und el, ö und e ist nur im<lb/> Norden die Rede. Ferner vermengen sich in einer und derselben Provinz die<lb/> verschiedensten Aussprachen, und um dem Uebel die Krone aufzusetzen, ist fast<lb/> kein einziger Dialekt konsequent in der Anwendung seiner eigenen Lautgesehe.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0286]
Die Sprachperiode vor dem sechzehnten Jahrhunderte ist als die Zeit
der Dialekte zu bezeichnen. Das sogenannte Mittelhochdeutsche ist nur ein
Kvllektivucune für die schwäbischen, also nicht einmal für alle oberdeutschen
Mundarten. Die Gesammtsprache, Hochdeutsch genannt, weil sie über allen
Dialekten schwebt, ist nicht viel älter als dreihundert Jahre. Vorhanden aber
ist sie, genau genommen, noch nicht; denn wir schreiben zwar, sprechen aber
nicht übereinstimmend. Auch der gebildete norddeutsche sagt sprechen, stehen,
der Süddeutsche dagegen schprecheu, Schlehen. Der Franke und Obersachse
spricht nur im Amiant schp und fest, im Inlande sy und se und im Auslande
uach r fest, also Geschpenster, erhebt, Wurscht, der Schwabe und Alemanne da¬
gegen überall, also Geschpenschter, Geischt, Finschterniß. Am Unterrhein und
im Brandenburgischen, desgleichen an der Mittelelbe von Jüterbogk bis Delitzsch
hört man in Kirche und Schule Jade, Jott, jut, von Göttingen bis ins Ber¬
gische theils Chott, ahnt, chroß, theils Djott, djut, djroß, in manchen Orten
Niedersachsens Gabe, gut, groß neben jeher, jießen, Sieje, und während man
in Schlesien Wek, Berg, Komik und Sick ^ sagt, lauten diese Worte in Ober¬
sachsen Wend, Bernb, Könich, und siech. In Schwaben wird zwischen g und
k nicht unterschieden, und bekränzen klingt wie begrenzen, begleiten wie beklei¬
den. In Baiern und Schwaben wird Pf deutlich ausgesprochen, in Westfrauken
aber Hort man nur das P (Pesfer) und in Niedersachsen nur das f (Feffer).
Im Norden haben t und p den harten Laut, im Süden klingen sie wie d
und b. Auslautendes t wirft man am Niederrhein meist fort und sagt z. B.
statt Obst Ohs und statt gebracht gebrach, wogegen es in Sachsen nur bei ist
und nicht weggelassen wird. Die hochdeutsche Sprache nimmt an, daß in den
Stämmen es vor s wie k lautet, also Lachs wie Laks, Büchse wie Bükse aus-
zusprechen ist, wie es dagegen, wenn das s durch Flexion dazutritt, wie in des
Dachs, des Buchs, der Nächste. In Franken dagegen sagt man der Rathke,
ja sogar polst statt pochst. In Norden hat das s den schwachen und das ß
den starken Zischlaut, im Süden kennt man keinen Unterschied zwischen den
beiden Buchstaben.
Zeigt sich nun schon in der Aussprache der Konsonanten eine große Zer¬
splitterung, so ist dies bei den Vokalen noch viel mehr der Fall. Das a tönt
in jedem deutschen Sprachgebiete anders (geradezu abscheulich das lange a in
der Stadt Braunschweig und hier und da in dem benachbarten Hannover), das
o variirt vom a bis zum u, das i nähert sich vielfach dem ü, an lautet aa,
ac und ac, von einem Unterschied zwischen en und el, ö und e ist nur im
Norden die Rede. Ferner vermengen sich in einer und derselben Provinz die
verschiedensten Aussprachen, und um dem Uebel die Krone aufzusetzen, ist fast
kein einziger Dialekt konsequent in der Anwendung seiner eigenen Lautgesehe.
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