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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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gestorben sei. Trotzdem harrt sie und harrt abermals zehn Jahre, alle Anträge
einer neuen Vermählung zurückweisend, Leiden erduldend und stille Thränen
vergießend. Hundert von den Edeln des Landes umringen sie als Freier, an¬
gezogen von der Schönheit und Tugend der edeln Frau oder von der Hoffmmg
auf die Königsherrschaft. Erzürnt durch die Zurückweisung setzen die Ueber-
müthigen sich im Besitzthum des fernen Königs fest, in seinen Sälen von seinen
Heerden schmausend und sein Gut vergeudend. Penelope muß zur List greifen,
um sich eine Frist vor der erzwungene!: Vermählung zu erkaufen. Sie erklärt,
daß sie uur ein Leichentuch noch vollenden wolle für den Helden Laertes, den
greisen Vater ihres Gatten, "damit nicht, sagt sie, die Frauen von Ithaka mich
tadeln, wenn der Held ohne ein Gewand von der Hand seiner Kinder in d:e
Grube gelegt wird". Aber was sie am Tage gewebt und mit ihren Thränen
genetzt hat, trennt sie bei Nacht wieder auf, damit nie der Tag der verhaßten
Vermählung komme. Zuletzt muß sie hören, wie der theure Sohn Telemach,
ein Säugling als der Vater hinwegzvg, jetzt ein Mann, von den Freiern er¬
mordet werden soll. Aber die Götter erhören ihr Gebet, und der glücklich
Heimgekehrte wird von allen Frauen im Palaste mit inniger Frende empfangen:


"Ihn erblickte zuerst die Pflegerin Eurykleia,
Welche mit Vließen belegte die künstlich gefertigten Sessel;
Und sie eilt' auf ihn zu mit Weinen; den Jüngling umringten
Auch die anderen Mägde des muthigen Dulders Odysseus
Und begrüßten ihn herzlich und küßten ihm Haupt und Schultern.
Dann entschritt dem Gemach die sinnige Penelopcia
Artemis gleichend an Wuchs und der goldenen Aphrodite,
Und umschlang mit den Armen den Sohn, den geliebten, und weinte,
Küßte das Haupt ihm und küßte die herrlichen strahlenden Augen,
Und wehklagend begann sie und sprach die geflügelten Worte:
Kommst du, mein süßestes Licht, mein Telemach? Wahrlich ich glaubte
Nimmer dich wiederzusehn".............--

Als zuletzt ihre List entdeckt wird und die Freier sie zur Vollendung des
Gewebes zwingen, entsagt sie doch der Hoffnung nicht. Zum Odysseus, der
als Bettler verkleidet ins Haus gekommen und den sie ausfragt, läßt sie sich
vernehmen:


"Fremdling, fürwahr, mir ward ja der Schönheit Glanz und des Wuchses
Ganz von den Göttern geraubt, seit Argos Mannen nach Troja
Zogen und mit ihnen zog in's Feld mein trauter Odysseus!
Kehrte mir jener zurück, machtvoll mein Leben beschirmend.
Herrlicher würde sodann mein Ruhm und schöner erglänzen.


Jetzo aber verschmacht' ich in Wehmuthsthränen zerfließend."

Nachdem der vermeintliche Bettler seine Begegnung mit Odysseus erzählt
hat, ruft sie von der Erinnerung überwältigt weinend aus:


gestorben sei. Trotzdem harrt sie und harrt abermals zehn Jahre, alle Anträge
einer neuen Vermählung zurückweisend, Leiden erduldend und stille Thränen
vergießend. Hundert von den Edeln des Landes umringen sie als Freier, an¬
gezogen von der Schönheit und Tugend der edeln Frau oder von der Hoffmmg
auf die Königsherrschaft. Erzürnt durch die Zurückweisung setzen die Ueber-
müthigen sich im Besitzthum des fernen Königs fest, in seinen Sälen von seinen
Heerden schmausend und sein Gut vergeudend. Penelope muß zur List greifen,
um sich eine Frist vor der erzwungene!: Vermählung zu erkaufen. Sie erklärt,
daß sie uur ein Leichentuch noch vollenden wolle für den Helden Laertes, den
greisen Vater ihres Gatten, „damit nicht, sagt sie, die Frauen von Ithaka mich
tadeln, wenn der Held ohne ein Gewand von der Hand seiner Kinder in d:e
Grube gelegt wird". Aber was sie am Tage gewebt und mit ihren Thränen
genetzt hat, trennt sie bei Nacht wieder auf, damit nie der Tag der verhaßten
Vermählung komme. Zuletzt muß sie hören, wie der theure Sohn Telemach,
ein Säugling als der Vater hinwegzvg, jetzt ein Mann, von den Freiern er¬
mordet werden soll. Aber die Götter erhören ihr Gebet, und der glücklich
Heimgekehrte wird von allen Frauen im Palaste mit inniger Frende empfangen:


„Ihn erblickte zuerst die Pflegerin Eurykleia,
Welche mit Vließen belegte die künstlich gefertigten Sessel;
Und sie eilt' auf ihn zu mit Weinen; den Jüngling umringten
Auch die anderen Mägde des muthigen Dulders Odysseus
Und begrüßten ihn herzlich und küßten ihm Haupt und Schultern.
Dann entschritt dem Gemach die sinnige Penelopcia
Artemis gleichend an Wuchs und der goldenen Aphrodite,
Und umschlang mit den Armen den Sohn, den geliebten, und weinte,
Küßte das Haupt ihm und küßte die herrlichen strahlenden Augen,
Und wehklagend begann sie und sprach die geflügelten Worte:
Kommst du, mein süßestes Licht, mein Telemach? Wahrlich ich glaubte
Nimmer dich wiederzusehn".............—

Als zuletzt ihre List entdeckt wird und die Freier sie zur Vollendung des
Gewebes zwingen, entsagt sie doch der Hoffnung nicht. Zum Odysseus, der
als Bettler verkleidet ins Haus gekommen und den sie ausfragt, läßt sie sich
vernehmen:


„Fremdling, fürwahr, mir ward ja der Schönheit Glanz und des Wuchses
Ganz von den Göttern geraubt, seit Argos Mannen nach Troja
Zogen und mit ihnen zog in's Feld mein trauter Odysseus!
Kehrte mir jener zurück, machtvoll mein Leben beschirmend.
Herrlicher würde sodann mein Ruhm und schöner erglänzen.


Jetzo aber verschmacht' ich in Wehmuthsthränen zerfließend."

Nachdem der vermeintliche Bettler seine Begegnung mit Odysseus erzählt
hat, ruft sie von der Erinnerung überwältigt weinend aus:


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[0214] gestorben sei. Trotzdem harrt sie und harrt abermals zehn Jahre, alle Anträge einer neuen Vermählung zurückweisend, Leiden erduldend und stille Thränen vergießend. Hundert von den Edeln des Landes umringen sie als Freier, an¬ gezogen von der Schönheit und Tugend der edeln Frau oder von der Hoffmmg auf die Königsherrschaft. Erzürnt durch die Zurückweisung setzen die Ueber- müthigen sich im Besitzthum des fernen Königs fest, in seinen Sälen von seinen Heerden schmausend und sein Gut vergeudend. Penelope muß zur List greifen, um sich eine Frist vor der erzwungene!: Vermählung zu erkaufen. Sie erklärt, daß sie uur ein Leichentuch noch vollenden wolle für den Helden Laertes, den greisen Vater ihres Gatten, „damit nicht, sagt sie, die Frauen von Ithaka mich tadeln, wenn der Held ohne ein Gewand von der Hand seiner Kinder in d:e Grube gelegt wird". Aber was sie am Tage gewebt und mit ihren Thränen genetzt hat, trennt sie bei Nacht wieder auf, damit nie der Tag der verhaßten Vermählung komme. Zuletzt muß sie hören, wie der theure Sohn Telemach, ein Säugling als der Vater hinwegzvg, jetzt ein Mann, von den Freiern er¬ mordet werden soll. Aber die Götter erhören ihr Gebet, und der glücklich Heimgekehrte wird von allen Frauen im Palaste mit inniger Frende empfangen: „Ihn erblickte zuerst die Pflegerin Eurykleia, Welche mit Vließen belegte die künstlich gefertigten Sessel; Und sie eilt' auf ihn zu mit Weinen; den Jüngling umringten Auch die anderen Mägde des muthigen Dulders Odysseus Und begrüßten ihn herzlich und küßten ihm Haupt und Schultern. Dann entschritt dem Gemach die sinnige Penelopcia Artemis gleichend an Wuchs und der goldenen Aphrodite, Und umschlang mit den Armen den Sohn, den geliebten, und weinte, Küßte das Haupt ihm und küßte die herrlichen strahlenden Augen, Und wehklagend begann sie und sprach die geflügelten Worte: Kommst du, mein süßestes Licht, mein Telemach? Wahrlich ich glaubte Nimmer dich wiederzusehn".............— Als zuletzt ihre List entdeckt wird und die Freier sie zur Vollendung des Gewebes zwingen, entsagt sie doch der Hoffnung nicht. Zum Odysseus, der als Bettler verkleidet ins Haus gekommen und den sie ausfragt, läßt sie sich vernehmen: „Fremdling, fürwahr, mir ward ja der Schönheit Glanz und des Wuchses Ganz von den Göttern geraubt, seit Argos Mannen nach Troja Zogen und mit ihnen zog in's Feld mein trauter Odysseus! Kehrte mir jener zurück, machtvoll mein Leben beschirmend. Herrlicher würde sodann mein Ruhm und schöner erglänzen. Jetzo aber verschmacht' ich in Wehmuthsthränen zerfließend." Nachdem der vermeintliche Bettler seine Begegnung mit Odysseus erzählt hat, ruft sie von der Erinnerung überwältigt weinend aus:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/214>, abgerufen am 29.06.2024.