Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und Sittenfestigkeit voraussetzen. Was nach unserer Sitte mit Recht als an¬
stößig gelten würde, daß nämlich Dienerinnen und sogar Töchter des Hauses
den Gästen beim Bade Handreichung leisten, wird als natürlich und unverfäng¬
lich angesehen:


"Aber Telemachos ward von der reizenden Polhkaste
Unterdessen gebadet, der jüngsten Tochter des Nestor.
Als sie ihn hatte gebadet, gesalbt auch mit glänzendem Oele
Und mit dein Untergewand ihn umhüllt und dem prächtigen Mantel,
Da entstieg er der Wann', Unsterblichen ähnlich an Ansehn".

Wie man die Unsittlichkeit betrachtete, zeigt das Verfahren des heim¬
kehrenden Odysseus gegen diejenigen seiner Sklavinnen, die sich mit den Freiern
vergangen hatten. "Schamlose nennt er sie, die der Götter und der Ehre und seiner
selbst vergessen", und Telemach, der sich bereitet sie dafür mit dem Tode zu
bestrafen, ruft aus:


"Nicht beraub' ich des Lebens durch ehrlichen Tod hier diese,
Die so lange nun schon mir selbst und unserer Mutter
Schande gehäuft auf das Haupt und geruht in den Armen der Freier".

Der falschen Meinung, welche die oben erwähnten auffälligen Sitten als
Beweise einer zweifelhaften Moral des heroischen Zeitalters ansieht, läßt sich
durch den einfachen Hinweis auf die beiden Frauengestalten der homerischen
Dichtung begegnen, welche der Dichter mit sichtlicher Vorliebe behandelt, und
die zugleich Muster der echten Weiblichkeit sind: Penelope und Andromache.
Abgesehen von den Gestalten der Kriemhild und Gudrun ist kaum jemals die
innige Liebe und die stille unerschütterliche Treue so ergreifend geschildert
worden, wie in diesen beiden Frauen.

Zehn Jahre faß Penelope schon daheim, der Rückkehr ihres Gatten
Odysseus harrend, als endlich die stolze Troerfeste erobert wurde. Alle die
achäischen Helden kehrten allmählich zurück, aber Odysseus kam nicht. Vergebens
schaute die treue Gattin von den Höhen von Ithaka hinaus auf das weite
Meer, ob nicht das Schiff des Königs erschiene. Alle Fremdlinge, die auf der
^nsel landeten, wurden von ihr befragt und, wenn sie nur eine geringe Kunde
brachten, im Palaste beherbergt und reich beschenkt entlassen. Sie läßt sich am
Herdfeuer von dem Wanderer berichten und klagt ihm:


"Ja mich freut's alltäglich, betrübt, wehklagenden Herzens
Meine Geschäfte zu schaun und der Magd' Arbeit im Palaste.
Doch wenn genaht die Nacht und Alle umfängt der Schlummer,
Lieg ich im Bett angstvoll und hinfort umdrängen das Herz mir
Ragender Sorg' Unruhen, zum Wehklagruf mich erweckend".

Die Kunde, die sie sucht, erhält sie nicht oder sie hört gar, daß der Held


Grenzboten II. 1377. 27

und Sittenfestigkeit voraussetzen. Was nach unserer Sitte mit Recht als an¬
stößig gelten würde, daß nämlich Dienerinnen und sogar Töchter des Hauses
den Gästen beim Bade Handreichung leisten, wird als natürlich und unverfäng¬
lich angesehen:


„Aber Telemachos ward von der reizenden Polhkaste
Unterdessen gebadet, der jüngsten Tochter des Nestor.
Als sie ihn hatte gebadet, gesalbt auch mit glänzendem Oele
Und mit dein Untergewand ihn umhüllt und dem prächtigen Mantel,
Da entstieg er der Wann', Unsterblichen ähnlich an Ansehn".

Wie man die Unsittlichkeit betrachtete, zeigt das Verfahren des heim¬
kehrenden Odysseus gegen diejenigen seiner Sklavinnen, die sich mit den Freiern
vergangen hatten. „Schamlose nennt er sie, die der Götter und der Ehre und seiner
selbst vergessen", und Telemach, der sich bereitet sie dafür mit dem Tode zu
bestrafen, ruft aus:


„Nicht beraub' ich des Lebens durch ehrlichen Tod hier diese,
Die so lange nun schon mir selbst und unserer Mutter
Schande gehäuft auf das Haupt und geruht in den Armen der Freier".

Der falschen Meinung, welche die oben erwähnten auffälligen Sitten als
Beweise einer zweifelhaften Moral des heroischen Zeitalters ansieht, läßt sich
durch den einfachen Hinweis auf die beiden Frauengestalten der homerischen
Dichtung begegnen, welche der Dichter mit sichtlicher Vorliebe behandelt, und
die zugleich Muster der echten Weiblichkeit sind: Penelope und Andromache.
Abgesehen von den Gestalten der Kriemhild und Gudrun ist kaum jemals die
innige Liebe und die stille unerschütterliche Treue so ergreifend geschildert
worden, wie in diesen beiden Frauen.

Zehn Jahre faß Penelope schon daheim, der Rückkehr ihres Gatten
Odysseus harrend, als endlich die stolze Troerfeste erobert wurde. Alle die
achäischen Helden kehrten allmählich zurück, aber Odysseus kam nicht. Vergebens
schaute die treue Gattin von den Höhen von Ithaka hinaus auf das weite
Meer, ob nicht das Schiff des Königs erschiene. Alle Fremdlinge, die auf der
^nsel landeten, wurden von ihr befragt und, wenn sie nur eine geringe Kunde
brachten, im Palaste beherbergt und reich beschenkt entlassen. Sie läßt sich am
Herdfeuer von dem Wanderer berichten und klagt ihm:


„Ja mich freut's alltäglich, betrübt, wehklagenden Herzens
Meine Geschäfte zu schaun und der Magd' Arbeit im Palaste.
Doch wenn genaht die Nacht und Alle umfängt der Schlummer,
Lieg ich im Bett angstvoll und hinfort umdrängen das Herz mir
Ragender Sorg' Unruhen, zum Wehklagruf mich erweckend".

Die Kunde, die sie sucht, erhält sie nicht oder sie hört gar, daß der Held


Grenzboten II. 1377. 27
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0213" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137914"/>
          <p xml:id="ID_559" prev="#ID_558"> und Sittenfestigkeit voraussetzen. Was nach unserer Sitte mit Recht als an¬<lb/>
stößig gelten würde, daß nämlich Dienerinnen und sogar Töchter des Hauses<lb/>
den Gästen beim Bade Handreichung leisten, wird als natürlich und unverfäng¬<lb/>
lich angesehen:</p><lb/>
          <quote> &#x201E;Aber Telemachos ward von der reizenden Polhkaste<lb/>
Unterdessen gebadet, der jüngsten Tochter des Nestor.<lb/>
Als sie ihn hatte gebadet, gesalbt auch mit glänzendem Oele<lb/>
Und mit dein Untergewand ihn umhüllt und dem prächtigen Mantel,<lb/>
Da entstieg er der Wann', Unsterblichen ähnlich an Ansehn".</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_560"> Wie man die Unsittlichkeit betrachtete, zeigt das Verfahren des heim¬<lb/>
kehrenden Odysseus gegen diejenigen seiner Sklavinnen, die sich mit den Freiern<lb/>
vergangen hatten. &#x201E;Schamlose nennt er sie, die der Götter und der Ehre und seiner<lb/>
selbst vergessen", und Telemach, der sich bereitet sie dafür mit dem Tode zu<lb/>
bestrafen, ruft aus:</p><lb/>
          <quote> &#x201E;Nicht beraub' ich des Lebens durch ehrlichen Tod hier diese,<lb/>
Die so lange nun schon mir selbst und unserer Mutter<lb/>
Schande gehäuft auf das Haupt und geruht in den Armen der Freier".</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_561"> Der falschen Meinung, welche die oben erwähnten auffälligen Sitten als<lb/>
Beweise einer zweifelhaften Moral des heroischen Zeitalters ansieht, läßt sich<lb/>
durch den einfachen Hinweis auf die beiden Frauengestalten der homerischen<lb/>
Dichtung begegnen, welche der Dichter mit sichtlicher Vorliebe behandelt, und<lb/>
die zugleich Muster der echten Weiblichkeit sind: Penelope und Andromache.<lb/>
Abgesehen von den Gestalten der Kriemhild und Gudrun ist kaum jemals die<lb/>
innige Liebe und die stille unerschütterliche Treue so ergreifend geschildert<lb/>
worden, wie in diesen beiden Frauen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_562"> Zehn Jahre faß Penelope schon daheim, der Rückkehr ihres Gatten<lb/>
Odysseus harrend, als endlich die stolze Troerfeste erobert wurde. Alle die<lb/>
achäischen Helden kehrten allmählich zurück, aber Odysseus kam nicht. Vergebens<lb/>
schaute die treue Gattin von den Höhen von Ithaka hinaus auf das weite<lb/>
Meer, ob nicht das Schiff des Königs erschiene. Alle Fremdlinge, die auf der<lb/>
^nsel landeten, wurden von ihr befragt und, wenn sie nur eine geringe Kunde<lb/>
brachten, im Palaste beherbergt und reich beschenkt entlassen. Sie läßt sich am<lb/>
Herdfeuer von dem Wanderer berichten und klagt ihm:</p><lb/>
          <quote> &#x201E;Ja mich freut's alltäglich, betrübt, wehklagenden Herzens<lb/>
Meine Geschäfte zu schaun und der Magd' Arbeit im Palaste.<lb/>
Doch wenn genaht die Nacht und Alle umfängt der Schlummer,<lb/>
Lieg ich im Bett angstvoll und hinfort umdrängen das Herz mir<lb/>
Ragender Sorg' Unruhen, zum Wehklagruf mich erweckend".</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_563" next="#ID_564"> Die Kunde, die sie sucht, erhält sie nicht oder sie hört gar, daß der Held</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1377. 27</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0213] und Sittenfestigkeit voraussetzen. Was nach unserer Sitte mit Recht als an¬ stößig gelten würde, daß nämlich Dienerinnen und sogar Töchter des Hauses den Gästen beim Bade Handreichung leisten, wird als natürlich und unverfäng¬ lich angesehen: „Aber Telemachos ward von der reizenden Polhkaste Unterdessen gebadet, der jüngsten Tochter des Nestor. Als sie ihn hatte gebadet, gesalbt auch mit glänzendem Oele Und mit dein Untergewand ihn umhüllt und dem prächtigen Mantel, Da entstieg er der Wann', Unsterblichen ähnlich an Ansehn". Wie man die Unsittlichkeit betrachtete, zeigt das Verfahren des heim¬ kehrenden Odysseus gegen diejenigen seiner Sklavinnen, die sich mit den Freiern vergangen hatten. „Schamlose nennt er sie, die der Götter und der Ehre und seiner selbst vergessen", und Telemach, der sich bereitet sie dafür mit dem Tode zu bestrafen, ruft aus: „Nicht beraub' ich des Lebens durch ehrlichen Tod hier diese, Die so lange nun schon mir selbst und unserer Mutter Schande gehäuft auf das Haupt und geruht in den Armen der Freier". Der falschen Meinung, welche die oben erwähnten auffälligen Sitten als Beweise einer zweifelhaften Moral des heroischen Zeitalters ansieht, läßt sich durch den einfachen Hinweis auf die beiden Frauengestalten der homerischen Dichtung begegnen, welche der Dichter mit sichtlicher Vorliebe behandelt, und die zugleich Muster der echten Weiblichkeit sind: Penelope und Andromache. Abgesehen von den Gestalten der Kriemhild und Gudrun ist kaum jemals die innige Liebe und die stille unerschütterliche Treue so ergreifend geschildert worden, wie in diesen beiden Frauen. Zehn Jahre faß Penelope schon daheim, der Rückkehr ihres Gatten Odysseus harrend, als endlich die stolze Troerfeste erobert wurde. Alle die achäischen Helden kehrten allmählich zurück, aber Odysseus kam nicht. Vergebens schaute die treue Gattin von den Höhen von Ithaka hinaus auf das weite Meer, ob nicht das Schiff des Königs erschiene. Alle Fremdlinge, die auf der ^nsel landeten, wurden von ihr befragt und, wenn sie nur eine geringe Kunde brachten, im Palaste beherbergt und reich beschenkt entlassen. Sie läßt sich am Herdfeuer von dem Wanderer berichten und klagt ihm: „Ja mich freut's alltäglich, betrübt, wehklagenden Herzens Meine Geschäfte zu schaun und der Magd' Arbeit im Palaste. Doch wenn genaht die Nacht und Alle umfängt der Schlummer, Lieg ich im Bett angstvoll und hinfort umdrängen das Herz mir Ragender Sorg' Unruhen, zum Wehklagruf mich erweckend". Die Kunde, die sie sucht, erhält sie nicht oder sie hört gar, daß der Held Grenzboten II. 1377. 27

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/213
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/213>, abgerufen am 01.07.2024.