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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Andrerseits zeigen uns die homerischen Gedichte eine solche Fülle von
Zügen gesunder und schöner Weiblichkeit, daß man ohne Mühe ein anmuthiges
Gesammtbild wird gruppiren können, was ich ans die alten Quellen und neuere
Abhandlungen gestützt versuchen will.

In der Stille des Hauses unter Obhut der Mutter und Pflege von
Wärterinnen wuchs die Tochter eines edeln Hauses zur Jungfrau herein. Von
der Mutter und von geschickten Sklavinnen lernte sie, was man dermaleinst
von ihr als Hausfrau erwartete: die Kunst Wolle zu spinnen und feine Ge¬
wänder zu weben, dem Haushalte vorzustehen und verständigen Sinnes des
Hanfes Wohlstand zu erhalten und zu mehren, Dienern und Dienerinnen
milde zu gebieten und dem Gemahl treu und gehorsam zu sein. Unter die
Angen der Männer trat sie nur, wenn Feste der Götter das ganze Volk an
geweihter Stelle versammelten oder wenn die Frauen, wie es in Troja geschah,
während des Kampfes um Sieg und Rettung an den Altären beteten. An
den Festen wallten auch Frauen und Mädchen in feierlichem Zuge zu den
Tempeln, und im Chöre ehrten sie die Götter durch Gesang und Reigentanz.
Zu diesem Zwecke unterwies man auch frühzeitig die Töchter des Hauses in
den musischen Künsten, während von einem weitergehenden Unterricht in jener
Zeit ebensowenig die Rede war, als bei dem Ritterstande unseres frühen Mittel¬
alters. Die Umgebung im Hause, die ererbten Sitten, die Lebensgewohnheit
war es, nach der die Jugend sich bildete.

"War die Tochter herangewachsen, so pflegte der Vater einen Gemahl für
sie zu wählen, wie auch der Sohn in der Regel dem Vater die Wahl einer
Gattin überließ." So wird Iphigenie in das Kriegslager berufen, um sich
dem Achilles vermählen zu lassen, Megapenthes erhält die Gattin aus der Hand
seines Vaters Menelaos, und Achilles sagt: "Wenn ich heimkehre, wird mein
Vater Peleus mir eine Gattin aussuchen". Dabei ist es Regel, daß der Freier
dem Vater der Braut eine Gabe bietet, in Gold, künstlichem Geräth, Waffen
oder Vieh bestehend. Man kann diese Sitte wohl als eine Reminiscenz an
rohere Zeiten betrachten, in denen die Ehe wie ein Kaufgeschäft angesehen
wurde, und vielleicht aus diesem Grunde hat unsere verfeinerte Zeit das um¬
gekehrte Prinzip angenommen. Ein Beweis von hoher Schätzung der Braut ist,
daß oft so viele Freier auftreten und mit so reichen Geschenken um ein Mädchen
werben, daß dasselbe in ehrender Weise "die Vielumworbene" und "die Rinder¬
erwerbende" genannt wird.

Andererseits erhielt die Tochter eines angesehenen Hauses natürlich anch
eine angemessene Aussteuer, wie sie auch durch Erbschaft -- besonders als ein¬
ziges Kind -- ihrem Manne das ganze Besitzthum des Vaters zubringen
konnte. So bietet Agcnnemnou dem Achilles eine seiner Töchter nebst reichen


Andrerseits zeigen uns die homerischen Gedichte eine solche Fülle von
Zügen gesunder und schöner Weiblichkeit, daß man ohne Mühe ein anmuthiges
Gesammtbild wird gruppiren können, was ich ans die alten Quellen und neuere
Abhandlungen gestützt versuchen will.

In der Stille des Hauses unter Obhut der Mutter und Pflege von
Wärterinnen wuchs die Tochter eines edeln Hauses zur Jungfrau herein. Von
der Mutter und von geschickten Sklavinnen lernte sie, was man dermaleinst
von ihr als Hausfrau erwartete: die Kunst Wolle zu spinnen und feine Ge¬
wänder zu weben, dem Haushalte vorzustehen und verständigen Sinnes des
Hanfes Wohlstand zu erhalten und zu mehren, Dienern und Dienerinnen
milde zu gebieten und dem Gemahl treu und gehorsam zu sein. Unter die
Angen der Männer trat sie nur, wenn Feste der Götter das ganze Volk an
geweihter Stelle versammelten oder wenn die Frauen, wie es in Troja geschah,
während des Kampfes um Sieg und Rettung an den Altären beteten. An
den Festen wallten auch Frauen und Mädchen in feierlichem Zuge zu den
Tempeln, und im Chöre ehrten sie die Götter durch Gesang und Reigentanz.
Zu diesem Zwecke unterwies man auch frühzeitig die Töchter des Hauses in
den musischen Künsten, während von einem weitergehenden Unterricht in jener
Zeit ebensowenig die Rede war, als bei dem Ritterstande unseres frühen Mittel¬
alters. Die Umgebung im Hause, die ererbten Sitten, die Lebensgewohnheit
war es, nach der die Jugend sich bildete.

„War die Tochter herangewachsen, so pflegte der Vater einen Gemahl für
sie zu wählen, wie auch der Sohn in der Regel dem Vater die Wahl einer
Gattin überließ." So wird Iphigenie in das Kriegslager berufen, um sich
dem Achilles vermählen zu lassen, Megapenthes erhält die Gattin aus der Hand
seines Vaters Menelaos, und Achilles sagt: „Wenn ich heimkehre, wird mein
Vater Peleus mir eine Gattin aussuchen". Dabei ist es Regel, daß der Freier
dem Vater der Braut eine Gabe bietet, in Gold, künstlichem Geräth, Waffen
oder Vieh bestehend. Man kann diese Sitte wohl als eine Reminiscenz an
rohere Zeiten betrachten, in denen die Ehe wie ein Kaufgeschäft angesehen
wurde, und vielleicht aus diesem Grunde hat unsere verfeinerte Zeit das um¬
gekehrte Prinzip angenommen. Ein Beweis von hoher Schätzung der Braut ist,
daß oft so viele Freier auftreten und mit so reichen Geschenken um ein Mädchen
werben, daß dasselbe in ehrender Weise „die Vielumworbene" und „die Rinder¬
erwerbende" genannt wird.

Andererseits erhielt die Tochter eines angesehenen Hauses natürlich anch
eine angemessene Aussteuer, wie sie auch durch Erbschaft — besonders als ein¬
ziges Kind — ihrem Manne das ganze Besitzthum des Vaters zubringen
konnte. So bietet Agcnnemnou dem Achilles eine seiner Töchter nebst reichen


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[0210] Andrerseits zeigen uns die homerischen Gedichte eine solche Fülle von Zügen gesunder und schöner Weiblichkeit, daß man ohne Mühe ein anmuthiges Gesammtbild wird gruppiren können, was ich ans die alten Quellen und neuere Abhandlungen gestützt versuchen will. In der Stille des Hauses unter Obhut der Mutter und Pflege von Wärterinnen wuchs die Tochter eines edeln Hauses zur Jungfrau herein. Von der Mutter und von geschickten Sklavinnen lernte sie, was man dermaleinst von ihr als Hausfrau erwartete: die Kunst Wolle zu spinnen und feine Ge¬ wänder zu weben, dem Haushalte vorzustehen und verständigen Sinnes des Hanfes Wohlstand zu erhalten und zu mehren, Dienern und Dienerinnen milde zu gebieten und dem Gemahl treu und gehorsam zu sein. Unter die Angen der Männer trat sie nur, wenn Feste der Götter das ganze Volk an geweihter Stelle versammelten oder wenn die Frauen, wie es in Troja geschah, während des Kampfes um Sieg und Rettung an den Altären beteten. An den Festen wallten auch Frauen und Mädchen in feierlichem Zuge zu den Tempeln, und im Chöre ehrten sie die Götter durch Gesang und Reigentanz. Zu diesem Zwecke unterwies man auch frühzeitig die Töchter des Hauses in den musischen Künsten, während von einem weitergehenden Unterricht in jener Zeit ebensowenig die Rede war, als bei dem Ritterstande unseres frühen Mittel¬ alters. Die Umgebung im Hause, die ererbten Sitten, die Lebensgewohnheit war es, nach der die Jugend sich bildete. „War die Tochter herangewachsen, so pflegte der Vater einen Gemahl für sie zu wählen, wie auch der Sohn in der Regel dem Vater die Wahl einer Gattin überließ." So wird Iphigenie in das Kriegslager berufen, um sich dem Achilles vermählen zu lassen, Megapenthes erhält die Gattin aus der Hand seines Vaters Menelaos, und Achilles sagt: „Wenn ich heimkehre, wird mein Vater Peleus mir eine Gattin aussuchen". Dabei ist es Regel, daß der Freier dem Vater der Braut eine Gabe bietet, in Gold, künstlichem Geräth, Waffen oder Vieh bestehend. Man kann diese Sitte wohl als eine Reminiscenz an rohere Zeiten betrachten, in denen die Ehe wie ein Kaufgeschäft angesehen wurde, und vielleicht aus diesem Grunde hat unsere verfeinerte Zeit das um¬ gekehrte Prinzip angenommen. Ein Beweis von hoher Schätzung der Braut ist, daß oft so viele Freier auftreten und mit so reichen Geschenken um ein Mädchen werben, daß dasselbe in ehrender Weise „die Vielumworbene" und „die Rinder¬ erwerbende" genannt wird. Andererseits erhielt die Tochter eines angesehenen Hauses natürlich anch eine angemessene Aussteuer, wie sie auch durch Erbschaft — besonders als ein¬ ziges Kind — ihrem Manne das ganze Besitzthum des Vaters zubringen konnte. So bietet Agcnnemnou dem Achilles eine seiner Töchter nebst reichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/210>, abgerufen am 23.07.2024.