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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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mußte das Bewußtsein von dem Werthe einer Frau, von der durch ihren Raub
verübten schweren Beleidigung lebendig sein, um in dieser Heerfahrt eines
ganzen Volkes behufs Wiedergewinnung der Geraubten etwas auch nur poetisch
Berechtigtes zu finden.

Sie war nach Götterausspruch die schönste der Frauen, Helena, die Tochter
der Leda und Schwester der Dioskuren, die nach göttlichem Willen durch
den troischen Königssohn aus dem Hause ihres königlichen Gatten entführt
wurde.

Mit großem Unrecht hat man diese Entführung als einen Beweis der
Unsittlichkeit des heroischen Zeitalters angesehen. Das Ereigniß ist ein noth¬
wendiges Glied in einer Kette von mythologischen Ereignissen, die nach der
Meinung der Griechen durch Götterwillen vorausbestimmt waren und jenes
Gliedes nicht entbehren konnten. Diese Kette knüpft einerseits an die Stadt
Troja an, deren Könige zweimal die Götter Poseidon und Apollon, dann den
Herakles um den bedungenen Lohn betrogen hatten und die dafür gezüchtigt
werden sollte, andrerseits an die Göttinnen Aphrodite und Hera, deren eine dem
Paris die schönste Fran verheißen hatte, die andere an ihm und seiner Vater¬
stadt sich rächen wollte.

Aehnliche Bewandniß hat es mit einem zweiten oft zum Tadel des sitt¬
lichen Zustandes im alten Griechenland ausgebeuteten mythischen Ereigniß, der
Verführung der Klytämnestra durch Aegisthos. Auch hier greift eine höhere
Hand hinein, die an Agcunemnon für seine Thaten Vergeltung übt und zu¬
gleich des unentrinnbaren Schicksals Bestimmung vollzieht. Es ist der im
Hause des Pelops von Geschlecht zu Geschlecht waltende Fluch, der ein neues
Opfer fordert und Klytämnestra zum Morde des Gatten treibt, der ihre Tochter
geopfert. Sie braucht zu ihrer That männlichen Beistand und gibt sich des¬
halb dem Agisthos hin.

Diese beiden Beispiele sind die einzigen Züge ihrer Art, die wir in dem
reichen homerischen Gemälde finden, und sie als Beweis für die Unsittlichkeit
des Zeitalters ansehen hieße soviel, als wollte man aus den Gestalten eines
Franz Moor oder Wagner schließen, daß Deutschland am Ende des 18. Jahr¬
hunderts von Schurken und Schwachköpfen bevölkert gewesen sei.

Ein weiteres Argument für die zweifelhafte Moral jener Zeit und des
griechischen Alterthums überhaupt hat nur Unkenntnis; der Sache aufstellen
können, ich meine die mythologischen Liebesgeschichten. Sie sind symbolische
Darstellungen von Naturvorgängen, liegen also ganz außerhalb des Kreises
wirklicher Vorgänge und menschlicher Prinzipien und haben niemals einen
Griechen zu der Meinung verleitet, daß das, was Z?us und Ares gethan, auch
in seinem Kreise erlaubt sei.


mußte das Bewußtsein von dem Werthe einer Frau, von der durch ihren Raub
verübten schweren Beleidigung lebendig sein, um in dieser Heerfahrt eines
ganzen Volkes behufs Wiedergewinnung der Geraubten etwas auch nur poetisch
Berechtigtes zu finden.

Sie war nach Götterausspruch die schönste der Frauen, Helena, die Tochter
der Leda und Schwester der Dioskuren, die nach göttlichem Willen durch
den troischen Königssohn aus dem Hause ihres königlichen Gatten entführt
wurde.

Mit großem Unrecht hat man diese Entführung als einen Beweis der
Unsittlichkeit des heroischen Zeitalters angesehen. Das Ereigniß ist ein noth¬
wendiges Glied in einer Kette von mythologischen Ereignissen, die nach der
Meinung der Griechen durch Götterwillen vorausbestimmt waren und jenes
Gliedes nicht entbehren konnten. Diese Kette knüpft einerseits an die Stadt
Troja an, deren Könige zweimal die Götter Poseidon und Apollon, dann den
Herakles um den bedungenen Lohn betrogen hatten und die dafür gezüchtigt
werden sollte, andrerseits an die Göttinnen Aphrodite und Hera, deren eine dem
Paris die schönste Fran verheißen hatte, die andere an ihm und seiner Vater¬
stadt sich rächen wollte.

Aehnliche Bewandniß hat es mit einem zweiten oft zum Tadel des sitt¬
lichen Zustandes im alten Griechenland ausgebeuteten mythischen Ereigniß, der
Verführung der Klytämnestra durch Aegisthos. Auch hier greift eine höhere
Hand hinein, die an Agcunemnon für seine Thaten Vergeltung übt und zu¬
gleich des unentrinnbaren Schicksals Bestimmung vollzieht. Es ist der im
Hause des Pelops von Geschlecht zu Geschlecht waltende Fluch, der ein neues
Opfer fordert und Klytämnestra zum Morde des Gatten treibt, der ihre Tochter
geopfert. Sie braucht zu ihrer That männlichen Beistand und gibt sich des¬
halb dem Agisthos hin.

Diese beiden Beispiele sind die einzigen Züge ihrer Art, die wir in dem
reichen homerischen Gemälde finden, und sie als Beweis für die Unsittlichkeit
des Zeitalters ansehen hieße soviel, als wollte man aus den Gestalten eines
Franz Moor oder Wagner schließen, daß Deutschland am Ende des 18. Jahr¬
hunderts von Schurken und Schwachköpfen bevölkert gewesen sei.

Ein weiteres Argument für die zweifelhafte Moral jener Zeit und des
griechischen Alterthums überhaupt hat nur Unkenntnis; der Sache aufstellen
können, ich meine die mythologischen Liebesgeschichten. Sie sind symbolische
Darstellungen von Naturvorgängen, liegen also ganz außerhalb des Kreises
wirklicher Vorgänge und menschlicher Prinzipien und haben niemals einen
Griechen zu der Meinung verleitet, daß das, was Z?us und Ares gethan, auch
in seinem Kreise erlaubt sei.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/209>, abgerufen am 23.07.2024.