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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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das Alter und den Tod zu Folge hat, welcher das Ende dieses Lebens voll
Schmerzen ist. Darauf aber beginnt diese Reihe von Ursachen ihre Wirkung
von neuem, wenn man nicht dahin gelangt, solchem Wiederanfangeu durch das
Nirwana zu entrinnen.

Das Nirwana ist der wichtigste Punkt in der Lehre des Buddha. Man
gelangt dahin nach vollkommener Befolgung des Gesetzes durch das Dhiana,
die Beschaulichkeit in ihren drei Graden. Der Asket, der vermittelst der
Theorie von der Verkettung der wechselseitigen Ursachen in die Kenntniß der
Dinge eingedrungen ist, thut zunächst die Begierde und die Leidenschaft ab,
dann leistet er auf die Verstandesthätigkeit und das Urtheilen Verzicht ^und be¬
hält nur Erinnerung und Kenntnißnahme noch bei. Zu.einem noch höheren
Grade gelangt er zur Gleichgültigkeit selbst gegen das Glück, welches soeben
noch seine Vernunft empfand, indem sie sich allmählich von den irdischen Ban¬
den löste. Endlich, auf einer ferneren Stufe, hat der Asket sogar das Gefühl
seiner Gleichgültigkeit verloren, und fortan frei von jeder Freude sowie von
jedem Schmerze, ist er zur Empfindungslosigkeit gelangt. Aber auch hierbei
bleibt er nicht stehen Er verläßt die Welt der Formen und schwingt sich
auf, um das Nichtsein in der Welt ohne Formen zu erreichen. Die nächste
Stufe dieses neuen Ganges zur Vollkommenheit des Nirwana ist die Region
des Unendlichen im Denken. Auf dieser Höhe eingetroffen, berührt das Denken
eine dritte Region, die, wo nichts existirt. Da man aber vermuthen Ännhe,
daß in diesem Nichts noch eine Idee übrig sei, welche,dem Asketen das Nichts
selbst darstelle, in das er sich stürze, bedarf es noch einer letzten Anstrengung,
und man tritt in die vierte Region der Welt ohne Formen ein, wo es gar
keine Ideen, auch nicht die Idee des NichtVorhandenseins von Ideen gibt. So
aber ist am Ende dieses Prozesses das Nirwana eigentlich schon erreicht, nur
daß dieses kein Uebergangszustand, sondern ein endgültiger und ewiger ist. Es
gibt da weder Form noch Persönlichkeit noch Bewußtsein, weder Idee noch
Erscheinungsvermögen, kurz nichts mehr, was das Sein ausmacht. Das
Nirwana ist das reine, einfache Nichts, und dieses System des absoluten
Nihilismus paßt genau zu dem, was der Buddha selbst sagte: "Alle Erschei¬
nung ist leer. Alle Substanz ist leer. Drinnen ist die Leere und draußen ist
die Leere. Die Persönlichkeit selbst ist ohne Substanz."

Das Leben des Menschen ist dem Buddha eine Folge seines Lebens vor
der Geburt, sein Leben ist eine ewige Kette von Wiedergeburten. Der Buddha
zeigt ihm, wie er sich von dieser Kette lösen, wie er sich der schrecklichen Noth¬
wendigkeit, nach dem Tode wieder aufzuleben, entziehen kann. Voll Mitleid
mit dem Menschengeschlechte gibt er ihm ein Moralgesetz, dessen Befolgung
ihm -- das ewige selige Leben in Gott? -- nicht doch, den ewigen Tod, das


das Alter und den Tod zu Folge hat, welcher das Ende dieses Lebens voll
Schmerzen ist. Darauf aber beginnt diese Reihe von Ursachen ihre Wirkung
von neuem, wenn man nicht dahin gelangt, solchem Wiederanfangeu durch das
Nirwana zu entrinnen.

Das Nirwana ist der wichtigste Punkt in der Lehre des Buddha. Man
gelangt dahin nach vollkommener Befolgung des Gesetzes durch das Dhiana,
die Beschaulichkeit in ihren drei Graden. Der Asket, der vermittelst der
Theorie von der Verkettung der wechselseitigen Ursachen in die Kenntniß der
Dinge eingedrungen ist, thut zunächst die Begierde und die Leidenschaft ab,
dann leistet er auf die Verstandesthätigkeit und das Urtheilen Verzicht ^und be¬
hält nur Erinnerung und Kenntnißnahme noch bei. Zu.einem noch höheren
Grade gelangt er zur Gleichgültigkeit selbst gegen das Glück, welches soeben
noch seine Vernunft empfand, indem sie sich allmählich von den irdischen Ban¬
den löste. Endlich, auf einer ferneren Stufe, hat der Asket sogar das Gefühl
seiner Gleichgültigkeit verloren, und fortan frei von jeder Freude sowie von
jedem Schmerze, ist er zur Empfindungslosigkeit gelangt. Aber auch hierbei
bleibt er nicht stehen Er verläßt die Welt der Formen und schwingt sich
auf, um das Nichtsein in der Welt ohne Formen zu erreichen. Die nächste
Stufe dieses neuen Ganges zur Vollkommenheit des Nirwana ist die Region
des Unendlichen im Denken. Auf dieser Höhe eingetroffen, berührt das Denken
eine dritte Region, die, wo nichts existirt. Da man aber vermuthen Ännhe,
daß in diesem Nichts noch eine Idee übrig sei, welche,dem Asketen das Nichts
selbst darstelle, in das er sich stürze, bedarf es noch einer letzten Anstrengung,
und man tritt in die vierte Region der Welt ohne Formen ein, wo es gar
keine Ideen, auch nicht die Idee des NichtVorhandenseins von Ideen gibt. So
aber ist am Ende dieses Prozesses das Nirwana eigentlich schon erreicht, nur
daß dieses kein Uebergangszustand, sondern ein endgültiger und ewiger ist. Es
gibt da weder Form noch Persönlichkeit noch Bewußtsein, weder Idee noch
Erscheinungsvermögen, kurz nichts mehr, was das Sein ausmacht. Das
Nirwana ist das reine, einfache Nichts, und dieses System des absoluten
Nihilismus paßt genau zu dem, was der Buddha selbst sagte: „Alle Erschei¬
nung ist leer. Alle Substanz ist leer. Drinnen ist die Leere und draußen ist
die Leere. Die Persönlichkeit selbst ist ohne Substanz."

Das Leben des Menschen ist dem Buddha eine Folge seines Lebens vor
der Geburt, sein Leben ist eine ewige Kette von Wiedergeburten. Der Buddha
zeigt ihm, wie er sich von dieser Kette lösen, wie er sich der schrecklichen Noth¬
wendigkeit, nach dem Tode wieder aufzuleben, entziehen kann. Voll Mitleid
mit dem Menschengeschlechte gibt er ihm ein Moralgesetz, dessen Befolgung
ihm — das ewige selige Leben in Gott? — nicht doch, den ewigen Tod, das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/188>, abgerufen am 03.07.2024.