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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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586 v. Chr. Bevor er sich zur Verkündigung seiner Lehre entschloß, zögerte
er noch einige Zeit, indem er fürchtete, man werde seine schwer faßbaren Ge¬
danken nicht verstehen. Endlich aber fühlte er sich gedrungen, was er sür sich
gewonnen, der Welt mitzutheilen, und zwar wurde er durch das Mitleid dazu
bewogen. "Alle Wesen", so sagte er sich, "ob sie nun niedrig, mittelmäßig
oder erhaben sind, ob sie sehr gut, mäßig gut oder sehr schlecht sind, können
in drei Klassen eingetheilt werden: ein Drittel ist im Irrthum und wird darin
bleiben, ein Drittel ist in der Wahrheit, ein Drittel aber in der Ungewißheit.
So sieht ein Mensch am Ufer eines Teiches Lotospflanzen, welche unter dem
Wasser, andere, die so hoch wie das Wasser, und wieder andere, die über die
Oberfläche des Wassers hinausgewachsen sind. Ob ich das Gesetz lehre oder
nicht, jener Theil der Wesen, welcher sicher im Irrthum hinlebt, wird es nicht
erkennen, und der, welcher sicher in der Wahrheit ist, wird es erkennen, der
aber, welcher in der Ungewißheit ist, wird das Gesetz, wenn ich es lehre, er¬
kennen, und wenn ich es nicht lehre, es nicht erkennen". Bei dieser Betrachtung
"fühlte sich Ssakjamnni von tiefem Erbarmen mit der Menge von Wesen er¬
griffen, die in Ungewißheit gestürzt sind."

Er wollte nun zunächst seine alten Lehrer Arata Kalama und Rudraka
bekehren, erfuhr aber, daß sie inzwischen gestorben waren. Darauf suchte er
feine früheren fünf Gefährten auf und fand sie in Waranaßi, der heiligen
Stadt des Brmnanenthnms. Sie weigerten sich zuerst, ihn anzuerkennen, da
sie nicht vergessen hatten, was sie seine Schwäche nannten. Er aber redete
ihnen so überzeugend zu, daß sie ihm endlich glaubten und ihn als Buddha
begrüßten. Bald sammelte sich nun um den Lehrer eine große Zahl von
Schülern aus allen Kasten, namentlich aus den niedern. Begierig hörten diese
seine Predigt, die so recht dazu angethan war, die Verstoßenen und Enterbten
der bramanischen Gesellschaft zu trösten. Wenn man hörte, daß alle Menschen
°n sich gleich, daß alle ohne Unterschied der Geburt in das religiöse Leben
Anzutreten und das Heil zu gewinnen berechtigt seien, und daß die Erlösung
^kein von der persönlichen Tugend abhänge und nicht von der Rangstufe des
^treffenden, so waren das Neuerungen, welche die Privilegirten zwar heftig
turnen, desto besser aber den Nichtprivilegirten gefallen. Und nicht weniger
Anhänger erwarb sich der Prophet durch die Form seines Auftretens. Die
Bramanen lehrten nur der Schule, sie bedienten sich dabei der dem Volke un¬
verständlich gewordenen Sprache der Veden, und sie kleideten ihr Wissen in
abstrakte, nur Gelehrten nicht unfaßbare Formeln. Der Buddha dagegen pre¬
digte den Massen unter freiem Himmel und aus der Fülle seines liebreichen
Herzens; er sprach dabei im Volksidiom und trug seine Gedanken und Er¬
wähnungen so einfach und leicht verständlich vor, daß auch die Eiufültigen sie


GrenzkMu II. 1877, 18

586 v. Chr. Bevor er sich zur Verkündigung seiner Lehre entschloß, zögerte
er noch einige Zeit, indem er fürchtete, man werde seine schwer faßbaren Ge¬
danken nicht verstehen. Endlich aber fühlte er sich gedrungen, was er sür sich
gewonnen, der Welt mitzutheilen, und zwar wurde er durch das Mitleid dazu
bewogen. „Alle Wesen", so sagte er sich, „ob sie nun niedrig, mittelmäßig
oder erhaben sind, ob sie sehr gut, mäßig gut oder sehr schlecht sind, können
in drei Klassen eingetheilt werden: ein Drittel ist im Irrthum und wird darin
bleiben, ein Drittel ist in der Wahrheit, ein Drittel aber in der Ungewißheit.
So sieht ein Mensch am Ufer eines Teiches Lotospflanzen, welche unter dem
Wasser, andere, die so hoch wie das Wasser, und wieder andere, die über die
Oberfläche des Wassers hinausgewachsen sind. Ob ich das Gesetz lehre oder
nicht, jener Theil der Wesen, welcher sicher im Irrthum hinlebt, wird es nicht
erkennen, und der, welcher sicher in der Wahrheit ist, wird es erkennen, der
aber, welcher in der Ungewißheit ist, wird das Gesetz, wenn ich es lehre, er¬
kennen, und wenn ich es nicht lehre, es nicht erkennen". Bei dieser Betrachtung
"fühlte sich Ssakjamnni von tiefem Erbarmen mit der Menge von Wesen er¬
griffen, die in Ungewißheit gestürzt sind."

Er wollte nun zunächst seine alten Lehrer Arata Kalama und Rudraka
bekehren, erfuhr aber, daß sie inzwischen gestorben waren. Darauf suchte er
feine früheren fünf Gefährten auf und fand sie in Waranaßi, der heiligen
Stadt des Brmnanenthnms. Sie weigerten sich zuerst, ihn anzuerkennen, da
sie nicht vergessen hatten, was sie seine Schwäche nannten. Er aber redete
ihnen so überzeugend zu, daß sie ihm endlich glaubten und ihn als Buddha
begrüßten. Bald sammelte sich nun um den Lehrer eine große Zahl von
Schülern aus allen Kasten, namentlich aus den niedern. Begierig hörten diese
seine Predigt, die so recht dazu angethan war, die Verstoßenen und Enterbten
der bramanischen Gesellschaft zu trösten. Wenn man hörte, daß alle Menschen
°n sich gleich, daß alle ohne Unterschied der Geburt in das religiöse Leben
Anzutreten und das Heil zu gewinnen berechtigt seien, und daß die Erlösung
^kein von der persönlichen Tugend abhänge und nicht von der Rangstufe des
^treffenden, so waren das Neuerungen, welche die Privilegirten zwar heftig
turnen, desto besser aber den Nichtprivilegirten gefallen. Und nicht weniger
Anhänger erwarb sich der Prophet durch die Form seines Auftretens. Die
Bramanen lehrten nur der Schule, sie bedienten sich dabei der dem Volke un¬
verständlich gewordenen Sprache der Veden, und sie kleideten ihr Wissen in
abstrakte, nur Gelehrten nicht unfaßbare Formeln. Der Buddha dagegen pre¬
digte den Massen unter freiem Himmel und aus der Fülle seines liebreichen
Herzens; er sprach dabei im Volksidiom und trug seine Gedanken und Er¬
wähnungen so einfach und leicht verständlich vor, daß auch die Eiufültigen sie


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[0141] 586 v. Chr. Bevor er sich zur Verkündigung seiner Lehre entschloß, zögerte er noch einige Zeit, indem er fürchtete, man werde seine schwer faßbaren Ge¬ danken nicht verstehen. Endlich aber fühlte er sich gedrungen, was er sür sich gewonnen, der Welt mitzutheilen, und zwar wurde er durch das Mitleid dazu bewogen. „Alle Wesen", so sagte er sich, „ob sie nun niedrig, mittelmäßig oder erhaben sind, ob sie sehr gut, mäßig gut oder sehr schlecht sind, können in drei Klassen eingetheilt werden: ein Drittel ist im Irrthum und wird darin bleiben, ein Drittel ist in der Wahrheit, ein Drittel aber in der Ungewißheit. So sieht ein Mensch am Ufer eines Teiches Lotospflanzen, welche unter dem Wasser, andere, die so hoch wie das Wasser, und wieder andere, die über die Oberfläche des Wassers hinausgewachsen sind. Ob ich das Gesetz lehre oder nicht, jener Theil der Wesen, welcher sicher im Irrthum hinlebt, wird es nicht erkennen, und der, welcher sicher in der Wahrheit ist, wird es erkennen, der aber, welcher in der Ungewißheit ist, wird das Gesetz, wenn ich es lehre, er¬ kennen, und wenn ich es nicht lehre, es nicht erkennen". Bei dieser Betrachtung "fühlte sich Ssakjamnni von tiefem Erbarmen mit der Menge von Wesen er¬ griffen, die in Ungewißheit gestürzt sind." Er wollte nun zunächst seine alten Lehrer Arata Kalama und Rudraka bekehren, erfuhr aber, daß sie inzwischen gestorben waren. Darauf suchte er feine früheren fünf Gefährten auf und fand sie in Waranaßi, der heiligen Stadt des Brmnanenthnms. Sie weigerten sich zuerst, ihn anzuerkennen, da sie nicht vergessen hatten, was sie seine Schwäche nannten. Er aber redete ihnen so überzeugend zu, daß sie ihm endlich glaubten und ihn als Buddha begrüßten. Bald sammelte sich nun um den Lehrer eine große Zahl von Schülern aus allen Kasten, namentlich aus den niedern. Begierig hörten diese seine Predigt, die so recht dazu angethan war, die Verstoßenen und Enterbten der bramanischen Gesellschaft zu trösten. Wenn man hörte, daß alle Menschen °n sich gleich, daß alle ohne Unterschied der Geburt in das religiöse Leben Anzutreten und das Heil zu gewinnen berechtigt seien, und daß die Erlösung ^kein von der persönlichen Tugend abhänge und nicht von der Rangstufe des ^treffenden, so waren das Neuerungen, welche die Privilegirten zwar heftig turnen, desto besser aber den Nichtprivilegirten gefallen. Und nicht weniger Anhänger erwarb sich der Prophet durch die Form seines Auftretens. Die Bramanen lehrten nur der Schule, sie bedienten sich dabei der dem Volke un¬ verständlich gewordenen Sprache der Veden, und sie kleideten ihr Wissen in abstrakte, nur Gelehrten nicht unfaßbare Formeln. Der Buddha dagegen pre¬ digte den Massen unter freiem Himmel und aus der Fülle seines liebreichen Herzens; er sprach dabei im Volksidiom und trug seine Gedanken und Er¬ wähnungen so einfach und leicht verständlich vor, daß auch die Eiufültigen sie GrenzkMu II. 1877, 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/141>, abgerufen am 03.07.2024.