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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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eines ungerechten Vorlebens. Stärker werden von Vielen die Tyrannei der
Fürsten, die willkürliche Gerechtigkeitspflege und der Steuerdruck empfunden
worden sein, die auf dem Volke lasteten. Bei Allen aber stand im Hinter¬
grunde mehr oder minder klar der Gedanke, daß auch der Tod in der Regel
von dieser Lage nicht befreie; denn immer wurde man nach seiner Priester
Lehre, wenn man die vollkommene Ertödtung seines Ich nicht erreicht hatte,
von Neuem geboren, um zu leiden. So entwickelte sich im Laufe der Jahr¬
hunderte eine verzehrend heiße Sehnsucht nach wirklicher, abschließender Ruhe
statt der jetzt drohenden endlosen Wiedergeburt, nach Versenkung in die ewige
Stille des absoluten Nichts. Die Zeit war reif geworden für eine große
religiöse Neugestaltung.

Der Prophet, welcher diese Revolution herbeiführte*), wurde 622 v. Chr.
in Kapilawastu, der Hauptstadt eines kleinen Königreichs zwischen dem Lande
Kossala und den Bergen von Nipal, geboren, und die Legende erzählt von
ihm Folgendes. Sein Vater, der altberühmten Familie der Ssakias angehörig,
hieß Sussoddhana und war König des Landes und Vasall des mächtigen
Herrschers von Magadha. seine Mutter die schöne Maja Deal. Man gab
ihm den Namen Siddharta, "der Erfolgreiche", sowie den Beinamen Ssa-
kisinha, "der Löwe der Ssakia". Der Bramcme Wißwamistra übernahm seine
Erziehung. Schon früh zeigte Siddharta ungewöhnliche Fassungskraft, Trieb
zur Erforschung des wahrhaft Guten und warmes Mitgefühl mit dem Unglück,
zugleich aber auch einen eigenthümlichen Hang zu einsamem und beschaulichem
Leben. Sechzehn Jahre alt wurde er mit einer Verwandten, der anmuthigen
Goya, vermählt, die ihm einen Sohn, nasuta, gebar. Später nahm er noch
zwei Frauen mit Namen Jassodhara und Utpalawarna. Aber weder die
Freuden der Ehe noch der Glanz fürstlichen Lebens vermochten ihn auf die
Dauer zu fesseln und zu befriedigen. Immer richtete sich sein Blick von
Neuem auf das unselige Geschick der Menschen und das gransame Loos unauf¬
hörlicher Wiedergeburt zum Leiden, und immer mehr erwachte in ihm der
Wunsch, als Büßer in die Einsamkeit zu gehen und dort das Gesetz zu suchen,
in welchem das Mittel zur Erlösung vom Fluche der Seelenwanderung gegeben
sein könnte. Wie diese Stimmung zum Entschluß wurde, erzählt eine Legende,
die wir in dem angeführten Buche nachzulesen bitten. Siddharta, damals
achtundzwanzig Jahre alt, bat seinen Vater, in seinen Plan zu willigen, und
floh, als er abschläglich beschieden wurde, in der Nacht heimlich aus seiner



") Wir folgen von jetzt ab auszugsweise dem dritten Bande der Bearbeitung von
Lenormants ,M-"r>usI et'Kistoirs -tllvwrmv <Zs 1'0,-ont" von Moritz Busch, die unter dem Tuet.
"Abriß der Urgeschichte des Orients" (Leipzig, Ambr. Adel) erschienen ist.

eines ungerechten Vorlebens. Stärker werden von Vielen die Tyrannei der
Fürsten, die willkürliche Gerechtigkeitspflege und der Steuerdruck empfunden
worden sein, die auf dem Volke lasteten. Bei Allen aber stand im Hinter¬
grunde mehr oder minder klar der Gedanke, daß auch der Tod in der Regel
von dieser Lage nicht befreie; denn immer wurde man nach seiner Priester
Lehre, wenn man die vollkommene Ertödtung seines Ich nicht erreicht hatte,
von Neuem geboren, um zu leiden. So entwickelte sich im Laufe der Jahr¬
hunderte eine verzehrend heiße Sehnsucht nach wirklicher, abschließender Ruhe
statt der jetzt drohenden endlosen Wiedergeburt, nach Versenkung in die ewige
Stille des absoluten Nichts. Die Zeit war reif geworden für eine große
religiöse Neugestaltung.

Der Prophet, welcher diese Revolution herbeiführte*), wurde 622 v. Chr.
in Kapilawastu, der Hauptstadt eines kleinen Königreichs zwischen dem Lande
Kossala und den Bergen von Nipal, geboren, und die Legende erzählt von
ihm Folgendes. Sein Vater, der altberühmten Familie der Ssakias angehörig,
hieß Sussoddhana und war König des Landes und Vasall des mächtigen
Herrschers von Magadha. seine Mutter die schöne Maja Deal. Man gab
ihm den Namen Siddharta, „der Erfolgreiche", sowie den Beinamen Ssa-
kisinha, „der Löwe der Ssakia". Der Bramcme Wißwamistra übernahm seine
Erziehung. Schon früh zeigte Siddharta ungewöhnliche Fassungskraft, Trieb
zur Erforschung des wahrhaft Guten und warmes Mitgefühl mit dem Unglück,
zugleich aber auch einen eigenthümlichen Hang zu einsamem und beschaulichem
Leben. Sechzehn Jahre alt wurde er mit einer Verwandten, der anmuthigen
Goya, vermählt, die ihm einen Sohn, nasuta, gebar. Später nahm er noch
zwei Frauen mit Namen Jassodhara und Utpalawarna. Aber weder die
Freuden der Ehe noch der Glanz fürstlichen Lebens vermochten ihn auf die
Dauer zu fesseln und zu befriedigen. Immer richtete sich sein Blick von
Neuem auf das unselige Geschick der Menschen und das gransame Loos unauf¬
hörlicher Wiedergeburt zum Leiden, und immer mehr erwachte in ihm der
Wunsch, als Büßer in die Einsamkeit zu gehen und dort das Gesetz zu suchen,
in welchem das Mittel zur Erlösung vom Fluche der Seelenwanderung gegeben
sein könnte. Wie diese Stimmung zum Entschluß wurde, erzählt eine Legende,
die wir in dem angeführten Buche nachzulesen bitten. Siddharta, damals
achtundzwanzig Jahre alt, bat seinen Vater, in seinen Plan zu willigen, und
floh, als er abschläglich beschieden wurde, in der Nacht heimlich aus seiner



") Wir folgen von jetzt ab auszugsweise dem dritten Bande der Bearbeitung von
Lenormants ,M-»r>usI et'Kistoirs -tllvwrmv <Zs 1'0,-ont" von Moritz Busch, die unter dem Tuet.
„Abriß der Urgeschichte des Orients" (Leipzig, Ambr. Adel) erschienen ist.
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[0138] eines ungerechten Vorlebens. Stärker werden von Vielen die Tyrannei der Fürsten, die willkürliche Gerechtigkeitspflege und der Steuerdruck empfunden worden sein, die auf dem Volke lasteten. Bei Allen aber stand im Hinter¬ grunde mehr oder minder klar der Gedanke, daß auch der Tod in der Regel von dieser Lage nicht befreie; denn immer wurde man nach seiner Priester Lehre, wenn man die vollkommene Ertödtung seines Ich nicht erreicht hatte, von Neuem geboren, um zu leiden. So entwickelte sich im Laufe der Jahr¬ hunderte eine verzehrend heiße Sehnsucht nach wirklicher, abschließender Ruhe statt der jetzt drohenden endlosen Wiedergeburt, nach Versenkung in die ewige Stille des absoluten Nichts. Die Zeit war reif geworden für eine große religiöse Neugestaltung. Der Prophet, welcher diese Revolution herbeiführte*), wurde 622 v. Chr. in Kapilawastu, der Hauptstadt eines kleinen Königreichs zwischen dem Lande Kossala und den Bergen von Nipal, geboren, und die Legende erzählt von ihm Folgendes. Sein Vater, der altberühmten Familie der Ssakias angehörig, hieß Sussoddhana und war König des Landes und Vasall des mächtigen Herrschers von Magadha. seine Mutter die schöne Maja Deal. Man gab ihm den Namen Siddharta, „der Erfolgreiche", sowie den Beinamen Ssa- kisinha, „der Löwe der Ssakia". Der Bramcme Wißwamistra übernahm seine Erziehung. Schon früh zeigte Siddharta ungewöhnliche Fassungskraft, Trieb zur Erforschung des wahrhaft Guten und warmes Mitgefühl mit dem Unglück, zugleich aber auch einen eigenthümlichen Hang zu einsamem und beschaulichem Leben. Sechzehn Jahre alt wurde er mit einer Verwandten, der anmuthigen Goya, vermählt, die ihm einen Sohn, nasuta, gebar. Später nahm er noch zwei Frauen mit Namen Jassodhara und Utpalawarna. Aber weder die Freuden der Ehe noch der Glanz fürstlichen Lebens vermochten ihn auf die Dauer zu fesseln und zu befriedigen. Immer richtete sich sein Blick von Neuem auf das unselige Geschick der Menschen und das gransame Loos unauf¬ hörlicher Wiedergeburt zum Leiden, und immer mehr erwachte in ihm der Wunsch, als Büßer in die Einsamkeit zu gehen und dort das Gesetz zu suchen, in welchem das Mittel zur Erlösung vom Fluche der Seelenwanderung gegeben sein könnte. Wie diese Stimmung zum Entschluß wurde, erzählt eine Legende, die wir in dem angeführten Buche nachzulesen bitten. Siddharta, damals achtundzwanzig Jahre alt, bat seinen Vater, in seinen Plan zu willigen, und floh, als er abschläglich beschieden wurde, in der Nacht heimlich aus seiner ") Wir folgen von jetzt ab auszugsweise dem dritten Bande der Bearbeitung von Lenormants ,M-»r>usI et'Kistoirs -tllvwrmv <Zs 1'0,-ont" von Moritz Busch, die unter dem Tuet. „Abriß der Urgeschichte des Orients" (Leipzig, Ambr. Adel) erschienen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/138>, abgerufen am 03.07.2024.