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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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ihrerseits wieder auf die der einfachen Naturreligion, d. h. der Furcht vor den
böse gedachten Natnrmächten und des Dankgefühls vor den als gut empfun¬
denen, gefolgt war. An die Stelle der Phantasie, welche diese Mächte in
Personen verwandelt, war nach der Völkerwanderung der Jndusvölker nach
dem Gangesthale die Abstraktion getreten, die das reiche, vielgestaltige Natur¬
leben dieser Gegenden zu einer einzigen Person zusammenfaßte, die einsam und
beschaulich im Jenseits thronte und die Substanz aller Dinge war. Je nach
dem Grade, in welchem die Menschen Theil an dieser Substanz, an dem Ur¬
quell der Welt, an Brama hatten, waren sie vornehmer oder geringer. Ihm
ganz nahe zu kommen, in ihm aufzugehen, war das Endziel des Lebens. Nach
jenem Gradunterschied, den die Geburt bildete, gliederte" sich Stände mit dies¬
seits unübersteiglichen Schranken. Jenes Ziel der höchsten Läuterung, des
Sichvcrlierens in die Gottheit ließ die Lehre von der Wiedergeburt und
Seelenwanderung entstehen, zugleich aber eine Moral, welche Bändigung aller
Sinnlichkeit, Ertödtung des Fleisches, völlige Trennung des Leiblichen vom
Geiste als den wahren Weg zur Vereinigung mit Brama, dem reinen Geiste
empfahl. Dieses Verlangen verwandelte sich später in das nach einer absoluten
Selbstlosigkeit, nach gänzlicher Selbstvernichtung des Ich, nach unbedingtem
Hineinsterben des Einzelnen in das allein wahre Leben Brcnnas. Die dazu
nicht fähig waren, lebten in steter Angst vor Zurückversetzung nach dem Tode
auf eine niedrigere Stufe. Die Energischeren wurden zu düsteren mönchischen
Büßern. Der Grundzug der Zeit, die finstre Flucht aus der Welt, dem
Scheindasein, dem Kerker, dem "Abgrund der Leiden", herrschte aber doch
nicht so vollkommen, daß er die Sinnlichkeit und die Phantasie der Menschen
ganz zu unterwerfen vermocht hätte. Jene trieb oft genug zu wildem Taumel
und üppigem Genuß, diese schuf neben oder unter dem farblosen, gestaltlosen
Brama mit Anlehnung an ältere Religionen eine bunte, groteske Menge von
Nebengöttern, und das Schwanken der Volksseele zwischen starrster Askese und
ungebundenster Befriedigung der Sinne, zwischen leerster Abstraktion und
zügellosestem phantastischem Schaffen trug wesentlich bei zu dem tiefen Unbe¬
hagen, der Unbefriedigtheit, dem Weltschmerze der Zeit, Gefühlen, die anßer
den oben erwähnten auch durch den grausamen Despotismus der herrschenden
Stände hervorgerufen waren und fortwährend genährt wurden.

Jahrhunderte hindurch hatten die Inder diesen Zustand ertragen. Viele
hatten sich bemüht, durch beschauliches Büßerleben ihre Leiblichkeit zu vernichte",
ihr Ich zu vergessen und in Brama zu zerschmelzen. Die Masse unterwarf
sich den Geboten der Religion; denn man vermied dadurch schreckliche Strafen
nach dem Tode, und andrerseits duldete sie es gelassen als göttliche Schickung,
wenn sie in eine niedere Kaste verwiesen war; denn es war ja nur die Folge


ihrerseits wieder auf die der einfachen Naturreligion, d. h. der Furcht vor den
böse gedachten Natnrmächten und des Dankgefühls vor den als gut empfun¬
denen, gefolgt war. An die Stelle der Phantasie, welche diese Mächte in
Personen verwandelt, war nach der Völkerwanderung der Jndusvölker nach
dem Gangesthale die Abstraktion getreten, die das reiche, vielgestaltige Natur¬
leben dieser Gegenden zu einer einzigen Person zusammenfaßte, die einsam und
beschaulich im Jenseits thronte und die Substanz aller Dinge war. Je nach
dem Grade, in welchem die Menschen Theil an dieser Substanz, an dem Ur¬
quell der Welt, an Brama hatten, waren sie vornehmer oder geringer. Ihm
ganz nahe zu kommen, in ihm aufzugehen, war das Endziel des Lebens. Nach
jenem Gradunterschied, den die Geburt bildete, gliederte» sich Stände mit dies¬
seits unübersteiglichen Schranken. Jenes Ziel der höchsten Läuterung, des
Sichvcrlierens in die Gottheit ließ die Lehre von der Wiedergeburt und
Seelenwanderung entstehen, zugleich aber eine Moral, welche Bändigung aller
Sinnlichkeit, Ertödtung des Fleisches, völlige Trennung des Leiblichen vom
Geiste als den wahren Weg zur Vereinigung mit Brama, dem reinen Geiste
empfahl. Dieses Verlangen verwandelte sich später in das nach einer absoluten
Selbstlosigkeit, nach gänzlicher Selbstvernichtung des Ich, nach unbedingtem
Hineinsterben des Einzelnen in das allein wahre Leben Brcnnas. Die dazu
nicht fähig waren, lebten in steter Angst vor Zurückversetzung nach dem Tode
auf eine niedrigere Stufe. Die Energischeren wurden zu düsteren mönchischen
Büßern. Der Grundzug der Zeit, die finstre Flucht aus der Welt, dem
Scheindasein, dem Kerker, dem „Abgrund der Leiden", herrschte aber doch
nicht so vollkommen, daß er die Sinnlichkeit und die Phantasie der Menschen
ganz zu unterwerfen vermocht hätte. Jene trieb oft genug zu wildem Taumel
und üppigem Genuß, diese schuf neben oder unter dem farblosen, gestaltlosen
Brama mit Anlehnung an ältere Religionen eine bunte, groteske Menge von
Nebengöttern, und das Schwanken der Volksseele zwischen starrster Askese und
ungebundenster Befriedigung der Sinne, zwischen leerster Abstraktion und
zügellosestem phantastischem Schaffen trug wesentlich bei zu dem tiefen Unbe¬
hagen, der Unbefriedigtheit, dem Weltschmerze der Zeit, Gefühlen, die anßer
den oben erwähnten auch durch den grausamen Despotismus der herrschenden
Stände hervorgerufen waren und fortwährend genährt wurden.

Jahrhunderte hindurch hatten die Inder diesen Zustand ertragen. Viele
hatten sich bemüht, durch beschauliches Büßerleben ihre Leiblichkeit zu vernichte»,
ihr Ich zu vergessen und in Brama zu zerschmelzen. Die Masse unterwarf
sich den Geboten der Religion; denn man vermied dadurch schreckliche Strafen
nach dem Tode, und andrerseits duldete sie es gelassen als göttliche Schickung,
wenn sie in eine niedere Kaste verwiesen war; denn es war ja nur die Folge


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[0137] ihrerseits wieder auf die der einfachen Naturreligion, d. h. der Furcht vor den böse gedachten Natnrmächten und des Dankgefühls vor den als gut empfun¬ denen, gefolgt war. An die Stelle der Phantasie, welche diese Mächte in Personen verwandelt, war nach der Völkerwanderung der Jndusvölker nach dem Gangesthale die Abstraktion getreten, die das reiche, vielgestaltige Natur¬ leben dieser Gegenden zu einer einzigen Person zusammenfaßte, die einsam und beschaulich im Jenseits thronte und die Substanz aller Dinge war. Je nach dem Grade, in welchem die Menschen Theil an dieser Substanz, an dem Ur¬ quell der Welt, an Brama hatten, waren sie vornehmer oder geringer. Ihm ganz nahe zu kommen, in ihm aufzugehen, war das Endziel des Lebens. Nach jenem Gradunterschied, den die Geburt bildete, gliederte» sich Stände mit dies¬ seits unübersteiglichen Schranken. Jenes Ziel der höchsten Läuterung, des Sichvcrlierens in die Gottheit ließ die Lehre von der Wiedergeburt und Seelenwanderung entstehen, zugleich aber eine Moral, welche Bändigung aller Sinnlichkeit, Ertödtung des Fleisches, völlige Trennung des Leiblichen vom Geiste als den wahren Weg zur Vereinigung mit Brama, dem reinen Geiste empfahl. Dieses Verlangen verwandelte sich später in das nach einer absoluten Selbstlosigkeit, nach gänzlicher Selbstvernichtung des Ich, nach unbedingtem Hineinsterben des Einzelnen in das allein wahre Leben Brcnnas. Die dazu nicht fähig waren, lebten in steter Angst vor Zurückversetzung nach dem Tode auf eine niedrigere Stufe. Die Energischeren wurden zu düsteren mönchischen Büßern. Der Grundzug der Zeit, die finstre Flucht aus der Welt, dem Scheindasein, dem Kerker, dem „Abgrund der Leiden", herrschte aber doch nicht so vollkommen, daß er die Sinnlichkeit und die Phantasie der Menschen ganz zu unterwerfen vermocht hätte. Jene trieb oft genug zu wildem Taumel und üppigem Genuß, diese schuf neben oder unter dem farblosen, gestaltlosen Brama mit Anlehnung an ältere Religionen eine bunte, groteske Menge von Nebengöttern, und das Schwanken der Volksseele zwischen starrster Askese und ungebundenster Befriedigung der Sinne, zwischen leerster Abstraktion und zügellosestem phantastischem Schaffen trug wesentlich bei zu dem tiefen Unbe¬ hagen, der Unbefriedigtheit, dem Weltschmerze der Zeit, Gefühlen, die anßer den oben erwähnten auch durch den grausamen Despotismus der herrschenden Stände hervorgerufen waren und fortwährend genährt wurden. Jahrhunderte hindurch hatten die Inder diesen Zustand ertragen. Viele hatten sich bemüht, durch beschauliches Büßerleben ihre Leiblichkeit zu vernichte», ihr Ich zu vergessen und in Brama zu zerschmelzen. Die Masse unterwarf sich den Geboten der Religion; denn man vermied dadurch schreckliche Strafen nach dem Tode, und andrerseits duldete sie es gelassen als göttliche Schickung, wenn sie in eine niedere Kaste verwiesen war; denn es war ja nur die Folge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/137>, abgerufen am 03.07.2024.