Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Hiermit ist zugleich ein drittes Gebiet berührt, auf welchem in der Volks¬
etymologie ein verschiedenes Verfahren möglich ist, nämlich das der Wort¬
bedeutung. Der Weg, den die Sprache hier einschlägt, ist ein dreifacher; für
jeden bieten die bisher aufgeführten Beispiele genügende Belege. Entweder
wird die Form geändert, aber alles Herumtasten der Sprache nach Anklängen
ist nicht im Stande, den ursprünglichen Begriff des Wortes zu alteriren -- dies
ist bei Armbrust, Leumund, Felleisen, Lebkuchen der Fall; oder
es gehen, wie bei Hagestolz, Form- und Bedeutungswechsel Hand in Hand;
oder endlich die Form wird festgehalten, während nur in der Verschiebung der
eigentlichen Bedeutung der volksetymologische Vorgang sichtbar wird, so bei
Miniatur, Equipage, irritiren.

Merkwürdig ist es zu sehen, wie viele fremde Sprachen von der deutschen
Volksetymologie in Kontribution gesetzt worden sind, wie viel fremdes
Sprachgut unser Volksmund, wie Wackernagel treffend sagte, sich "umgedeutscht"
hat. Aus dem ursprünglich griechischen, dann lateinischen s-psis, d. h. Ver¬
knüpfung, Verbindung, Gewölbe, hat der deutsche Bauhandwerker seine Abseite
gemacht und bezeichnet nun damit das "abseits" vom Mittelschiff liegende
Seitenschiff. Den lateinischen earduinmlus, eigentlich die kleine glühende Kohle,
dann das rothglühende, bösartige Geschwür, hat sich der Volksmund zum
Karfunkel zurechtgelegt, mit offenbarem Anklang an das "funkelnde" Feuer.
Aus dein lateinischen ligusticum, d. h. der aus Ligurien stammenden Pflanze,
dem Ligusterstrauch, hat das Deutsche, nachdem bereits das Mittelalter es zu
lubistieum und lovistieum verstümmelt hatte, endlich Liebstöckel gemacht.
Dem Italienischen entstammt unser Scharmützel; es ist die Umdeutschung
von sellramueeig., französisch "Zizvarrnouvliö, welches seinerseits wieder vom
mittelhochdeutsche" schirmen, d. b. kämpfen, gebildet ist. Aus dem französischen
ronäellö ist unser Rundtheil, aus dem französischen Mneliöttö, dem Bret-
chen, unser Blankscheit, die "blank" polirte, stählerne Miederstange entstanden.
Das harmlose Thier, welches die nordischen Sprachen als MUrras, d. h. das
Bergfrettchen, bezeichnen, haben wir mit dem schnöden Vorwurf der Gefräßigkeit
belastet und nennen es Vielfraß. Aus dem slavischen x6t8eb.g.t haben wir
uns, offenbar dem daran befindlichen Griff zu Liebe, ein Petschaft gemacht,
aus dem orientalischen mosIem, einem Partizip desselben Verbalstammes, von
welchem auch Islam und Jerusalem kommen, oder vielmehr aus seiner Plural¬
form moslemim haben wir uns den Muselmann geschaffen. Nach einem
amerikanischen Worte, das ins Holländische als naliZma,", ins Französische als
Kante übergegangen ist, hat der Deutsche sich sein Hängematte gebildet.
Selbst das Judendeutsch hat gelegentlich zu unserem volksetymolvgischen Vor¬
rath beigesteuert, denn das sogenannte Kümmelblättchen, das Hazardspiel


Hiermit ist zugleich ein drittes Gebiet berührt, auf welchem in der Volks¬
etymologie ein verschiedenes Verfahren möglich ist, nämlich das der Wort¬
bedeutung. Der Weg, den die Sprache hier einschlägt, ist ein dreifacher; für
jeden bieten die bisher aufgeführten Beispiele genügende Belege. Entweder
wird die Form geändert, aber alles Herumtasten der Sprache nach Anklängen
ist nicht im Stande, den ursprünglichen Begriff des Wortes zu alteriren — dies
ist bei Armbrust, Leumund, Felleisen, Lebkuchen der Fall; oder
es gehen, wie bei Hagestolz, Form- und Bedeutungswechsel Hand in Hand;
oder endlich die Form wird festgehalten, während nur in der Verschiebung der
eigentlichen Bedeutung der volksetymologische Vorgang sichtbar wird, so bei
Miniatur, Equipage, irritiren.

Merkwürdig ist es zu sehen, wie viele fremde Sprachen von der deutschen
Volksetymologie in Kontribution gesetzt worden sind, wie viel fremdes
Sprachgut unser Volksmund, wie Wackernagel treffend sagte, sich „umgedeutscht"
hat. Aus dem ursprünglich griechischen, dann lateinischen s-psis, d. h. Ver¬
knüpfung, Verbindung, Gewölbe, hat der deutsche Bauhandwerker seine Abseite
gemacht und bezeichnet nun damit das „abseits" vom Mittelschiff liegende
Seitenschiff. Den lateinischen earduinmlus, eigentlich die kleine glühende Kohle,
dann das rothglühende, bösartige Geschwür, hat sich der Volksmund zum
Karfunkel zurechtgelegt, mit offenbarem Anklang an das „funkelnde" Feuer.
Aus dein lateinischen ligusticum, d. h. der aus Ligurien stammenden Pflanze,
dem Ligusterstrauch, hat das Deutsche, nachdem bereits das Mittelalter es zu
lubistieum und lovistieum verstümmelt hatte, endlich Liebstöckel gemacht.
Dem Italienischen entstammt unser Scharmützel; es ist die Umdeutschung
von sellramueeig., französisch «Zizvarrnouvliö, welches seinerseits wieder vom
mittelhochdeutsche» schirmen, d. b. kämpfen, gebildet ist. Aus dem französischen
ronäellö ist unser Rundtheil, aus dem französischen Mneliöttö, dem Bret-
chen, unser Blankscheit, die „blank" polirte, stählerne Miederstange entstanden.
Das harmlose Thier, welches die nordischen Sprachen als MUrras, d. h. das
Bergfrettchen, bezeichnen, haben wir mit dem schnöden Vorwurf der Gefräßigkeit
belastet und nennen es Vielfraß. Aus dem slavischen x6t8eb.g.t haben wir
uns, offenbar dem daran befindlichen Griff zu Liebe, ein Petschaft gemacht,
aus dem orientalischen mosIem, einem Partizip desselben Verbalstammes, von
welchem auch Islam und Jerusalem kommen, oder vielmehr aus seiner Plural¬
form moslemim haben wir uns den Muselmann geschaffen. Nach einem
amerikanischen Worte, das ins Holländische als naliZma,«, ins Französische als
Kante übergegangen ist, hat der Deutsche sich sein Hängematte gebildet.
Selbst das Judendeutsch hat gelegentlich zu unserem volksetymolvgischen Vor¬
rath beigesteuert, denn das sogenannte Kümmelblättchen, das Hazardspiel


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0130" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137831"/>
          <p xml:id="ID_321"> Hiermit ist zugleich ein drittes Gebiet berührt, auf welchem in der Volks¬<lb/>
etymologie ein verschiedenes Verfahren möglich ist, nämlich das der Wort¬<lb/>
bedeutung. Der Weg, den die Sprache hier einschlägt, ist ein dreifacher; für<lb/>
jeden bieten die bisher aufgeführten Beispiele genügende Belege. Entweder<lb/>
wird die Form geändert, aber alles Herumtasten der Sprache nach Anklängen<lb/>
ist nicht im Stande, den ursprünglichen Begriff des Wortes zu alteriren &#x2014; dies<lb/>
ist bei Armbrust, Leumund, Felleisen, Lebkuchen der Fall; oder<lb/>
es gehen, wie bei Hagestolz, Form- und Bedeutungswechsel Hand in Hand;<lb/>
oder endlich die Form wird festgehalten, während nur in der Verschiebung der<lb/>
eigentlichen Bedeutung der volksetymologische Vorgang sichtbar wird, so bei<lb/>
Miniatur, Equipage, irritiren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_322" next="#ID_323"> Merkwürdig ist es zu sehen, wie viele fremde Sprachen von der deutschen<lb/>
Volksetymologie in Kontribution gesetzt worden sind, wie viel fremdes<lb/>
Sprachgut unser Volksmund, wie Wackernagel treffend sagte, sich &#x201E;umgedeutscht"<lb/>
hat. Aus dem ursprünglich griechischen, dann lateinischen s-psis, d. h. Ver¬<lb/>
knüpfung, Verbindung, Gewölbe, hat der deutsche Bauhandwerker seine Abseite<lb/>
gemacht und bezeichnet nun damit das &#x201E;abseits" vom Mittelschiff liegende<lb/>
Seitenschiff. Den lateinischen earduinmlus, eigentlich die kleine glühende Kohle,<lb/>
dann das rothglühende, bösartige Geschwür, hat sich der Volksmund zum<lb/>
Karfunkel zurechtgelegt, mit offenbarem Anklang an das &#x201E;funkelnde" Feuer.<lb/>
Aus dein lateinischen ligusticum, d. h. der aus Ligurien stammenden Pflanze,<lb/>
dem Ligusterstrauch, hat das Deutsche, nachdem bereits das Mittelalter es zu<lb/>
lubistieum und lovistieum verstümmelt hatte, endlich Liebstöckel gemacht.<lb/>
Dem Italienischen entstammt unser Scharmützel; es ist die Umdeutschung<lb/>
von sellramueeig., französisch «Zizvarrnouvliö, welches seinerseits wieder vom<lb/>
mittelhochdeutsche» schirmen, d. b. kämpfen, gebildet ist. Aus dem französischen<lb/>
ronäellö ist unser Rundtheil, aus dem französischen Mneliöttö, dem Bret-<lb/>
chen, unser Blankscheit, die &#x201E;blank" polirte, stählerne Miederstange entstanden.<lb/>
Das harmlose Thier, welches die nordischen Sprachen als MUrras, d. h. das<lb/>
Bergfrettchen, bezeichnen, haben wir mit dem schnöden Vorwurf der Gefräßigkeit<lb/>
belastet und nennen es Vielfraß. Aus dem slavischen x6t8eb.g.t haben wir<lb/>
uns, offenbar dem daran befindlichen Griff zu Liebe, ein Petschaft gemacht,<lb/>
aus dem orientalischen mosIem, einem Partizip desselben Verbalstammes, von<lb/>
welchem auch Islam und Jerusalem kommen, oder vielmehr aus seiner Plural¬<lb/>
form moslemim haben wir uns den Muselmann geschaffen. Nach einem<lb/>
amerikanischen Worte, das ins Holländische als naliZma,«, ins Französische als<lb/>
Kante übergegangen ist, hat der Deutsche sich sein Hängematte gebildet.<lb/>
Selbst das Judendeutsch hat gelegentlich zu unserem volksetymolvgischen Vor¬<lb/>
rath beigesteuert, denn das sogenannte Kümmelblättchen, das Hazardspiel</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0130] Hiermit ist zugleich ein drittes Gebiet berührt, auf welchem in der Volks¬ etymologie ein verschiedenes Verfahren möglich ist, nämlich das der Wort¬ bedeutung. Der Weg, den die Sprache hier einschlägt, ist ein dreifacher; für jeden bieten die bisher aufgeführten Beispiele genügende Belege. Entweder wird die Form geändert, aber alles Herumtasten der Sprache nach Anklängen ist nicht im Stande, den ursprünglichen Begriff des Wortes zu alteriren — dies ist bei Armbrust, Leumund, Felleisen, Lebkuchen der Fall; oder es gehen, wie bei Hagestolz, Form- und Bedeutungswechsel Hand in Hand; oder endlich die Form wird festgehalten, während nur in der Verschiebung der eigentlichen Bedeutung der volksetymologische Vorgang sichtbar wird, so bei Miniatur, Equipage, irritiren. Merkwürdig ist es zu sehen, wie viele fremde Sprachen von der deutschen Volksetymologie in Kontribution gesetzt worden sind, wie viel fremdes Sprachgut unser Volksmund, wie Wackernagel treffend sagte, sich „umgedeutscht" hat. Aus dem ursprünglich griechischen, dann lateinischen s-psis, d. h. Ver¬ knüpfung, Verbindung, Gewölbe, hat der deutsche Bauhandwerker seine Abseite gemacht und bezeichnet nun damit das „abseits" vom Mittelschiff liegende Seitenschiff. Den lateinischen earduinmlus, eigentlich die kleine glühende Kohle, dann das rothglühende, bösartige Geschwür, hat sich der Volksmund zum Karfunkel zurechtgelegt, mit offenbarem Anklang an das „funkelnde" Feuer. Aus dein lateinischen ligusticum, d. h. der aus Ligurien stammenden Pflanze, dem Ligusterstrauch, hat das Deutsche, nachdem bereits das Mittelalter es zu lubistieum und lovistieum verstümmelt hatte, endlich Liebstöckel gemacht. Dem Italienischen entstammt unser Scharmützel; es ist die Umdeutschung von sellramueeig., französisch «Zizvarrnouvliö, welches seinerseits wieder vom mittelhochdeutsche» schirmen, d. b. kämpfen, gebildet ist. Aus dem französischen ronäellö ist unser Rundtheil, aus dem französischen Mneliöttö, dem Bret- chen, unser Blankscheit, die „blank" polirte, stählerne Miederstange entstanden. Das harmlose Thier, welches die nordischen Sprachen als MUrras, d. h. das Bergfrettchen, bezeichnen, haben wir mit dem schnöden Vorwurf der Gefräßigkeit belastet und nennen es Vielfraß. Aus dem slavischen x6t8eb.g.t haben wir uns, offenbar dem daran befindlichen Griff zu Liebe, ein Petschaft gemacht, aus dem orientalischen mosIem, einem Partizip desselben Verbalstammes, von welchem auch Islam und Jerusalem kommen, oder vielmehr aus seiner Plural¬ form moslemim haben wir uns den Muselmann geschaffen. Nach einem amerikanischen Worte, das ins Holländische als naliZma,«, ins Französische als Kante übergegangen ist, hat der Deutsche sich sein Hängematte gebildet. Selbst das Judendeutsch hat gelegentlich zu unserem volksetymolvgischen Vor¬ rath beigesteuert, denn das sogenannte Kümmelblättchen, das Hazardspiel

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/130
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/130>, abgerufen am 03.07.2024.