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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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nenne", bedeutet und während es abzuleiten ist vom deutschen Schiff, das
die Franzosen sich zu esauix machten.

Mannigfach wie mit dem sprachlichen Material, verfährt die Volks¬
etymologie natürlich auch mit der Form der Wörter. Bald macht sie ein ein¬
faches Wort zu einem scheinbar zusammengesetzten, bald läßt sie von einem
wirklich zusammengesetzten Worte die eine Hälfte unberührt und modelt nur die
andere um, bald setzt sie mit dem ursprünglichen Worte, nachdem seine Bedeu¬
tung sich verdunkelt hat, zu besserem Verständniß ein zweites zusammen, bald
endlich nimmt sie mit der Form gar keine Umwandlung vor, und der volks¬
etymologische Vorgang tritt bloß in der Auffassung des Wortes hervor. Fell¬
eisen erscheint uns jetzt wie ein zusammengesetztes Wort, dessen Beziehungen
zum Fell allenfalls, zum Eisen freilich durchaus nicht einleuchten wollen;
sehr natürlich, denn das Wort ist nur durch den Volksmund aus dem mittel¬
lateinischen og,Iisig, dem französischen v^usf zurechtgelegt. Für den zweiten
Fall bietet Hagestolz ein klassisches Beispiel. Im Mittelhochdeutschen be¬
deutet ugZestÄlt,, im Altsächsischen I^MSwIrt, den "in den Hag gestellten",
d.h. den in ein eingehegtes, umfriedigtes Grundstück gestellten, dort seßhaften
und waltenden, vom Herrenhöfe abhängigen jungen, unverheirateten Mann.
Im "Heiland" werden die Jünger Jesu durch IiaMSwäÜL bezeichnet. Sowie
die Sprache sich der richtigen Ableitung nicht mehr bewußt war, drängte sich
in der zweiten Hälfte des Wortes ein Adjektiv hervor, und dies zog den all¬
bekannten Bedeutungswandel, der mit dem Worte vorging, nach sich: der Hage¬
stolz erschien nun als der alte Junggesell, der zu "stolz", zu ekel, zu wählerisch
gewesen und daher allein geblieben war; nach der ersten Hälfte des Wortes
fragte man nicht weiter. Dem dritten Falle gehört ein Wort wie Lebkuchen
in?, das mit dem Leben nichts zu thun hat, sondern dessen erste Hälfte selbst
ursprünglich den Kuchen, lateinisch lion bedeutet, und das pleonastisch weiter¬
gebildet wurde, nachdem die Bedeutung getrübt war. Ju ähnlicher Weise sind
Walfisch, Renthier, Maulesel entstanden; alle drei Thiere wurden ur¬
sprünglich schon durch die erste Hälfte der Worte bezeichnet: der Wal, das
Ren, das Maul -- noch Voß schreibt in der Odysseeübersetzung "Mäuler"
für Maulthiere; zugleich mit dem irregehenden volksetymologischen Triebe machte
sich auch hier das Bedürfuiß uach Zusammensetzung geltend. Für den zuletzt-
geuannten Fall endlich, daß der Lautbestand des Wortes selbst gar nicht tangirt
wird, sondern nur ein Bedeutungswandel vorliegt, kann irritiren, so wie es
wenigstens im Volksmunde gebraucht wird, ein Beispiel bilden. Wenn der
gewöhnliche Mann sagt: "Laß dich nur nicht irritiren" oder, wie er wirklich
sagt, "irretiren", so meint er damit unbedingt "irre machen, vom Vorsatze ab¬
bringen", während das lateinische irritare reizen, erzürnen bedeutet.


nenne», bedeutet und während es abzuleiten ist vom deutschen Schiff, das
die Franzosen sich zu esauix machten.

Mannigfach wie mit dem sprachlichen Material, verfährt die Volks¬
etymologie natürlich auch mit der Form der Wörter. Bald macht sie ein ein¬
faches Wort zu einem scheinbar zusammengesetzten, bald läßt sie von einem
wirklich zusammengesetzten Worte die eine Hälfte unberührt und modelt nur die
andere um, bald setzt sie mit dem ursprünglichen Worte, nachdem seine Bedeu¬
tung sich verdunkelt hat, zu besserem Verständniß ein zweites zusammen, bald
endlich nimmt sie mit der Form gar keine Umwandlung vor, und der volks¬
etymologische Vorgang tritt bloß in der Auffassung des Wortes hervor. Fell¬
eisen erscheint uns jetzt wie ein zusammengesetztes Wort, dessen Beziehungen
zum Fell allenfalls, zum Eisen freilich durchaus nicht einleuchten wollen;
sehr natürlich, denn das Wort ist nur durch den Volksmund aus dem mittel¬
lateinischen og,Iisig, dem französischen v^usf zurechtgelegt. Für den zweiten
Fall bietet Hagestolz ein klassisches Beispiel. Im Mittelhochdeutschen be¬
deutet ugZestÄlt,, im Altsächsischen I^MSwIrt, den „in den Hag gestellten",
d.h. den in ein eingehegtes, umfriedigtes Grundstück gestellten, dort seßhaften
und waltenden, vom Herrenhöfe abhängigen jungen, unverheirateten Mann.
Im „Heiland" werden die Jünger Jesu durch IiaMSwäÜL bezeichnet. Sowie
die Sprache sich der richtigen Ableitung nicht mehr bewußt war, drängte sich
in der zweiten Hälfte des Wortes ein Adjektiv hervor, und dies zog den all¬
bekannten Bedeutungswandel, der mit dem Worte vorging, nach sich: der Hage¬
stolz erschien nun als der alte Junggesell, der zu „stolz", zu ekel, zu wählerisch
gewesen und daher allein geblieben war; nach der ersten Hälfte des Wortes
fragte man nicht weiter. Dem dritten Falle gehört ein Wort wie Lebkuchen
in?, das mit dem Leben nichts zu thun hat, sondern dessen erste Hälfte selbst
ursprünglich den Kuchen, lateinisch lion bedeutet, und das pleonastisch weiter¬
gebildet wurde, nachdem die Bedeutung getrübt war. Ju ähnlicher Weise sind
Walfisch, Renthier, Maulesel entstanden; alle drei Thiere wurden ur¬
sprünglich schon durch die erste Hälfte der Worte bezeichnet: der Wal, das
Ren, das Maul — noch Voß schreibt in der Odysseeübersetzung „Mäuler"
für Maulthiere; zugleich mit dem irregehenden volksetymologischen Triebe machte
sich auch hier das Bedürfuiß uach Zusammensetzung geltend. Für den zuletzt-
geuannten Fall endlich, daß der Lautbestand des Wortes selbst gar nicht tangirt
wird, sondern nur ein Bedeutungswandel vorliegt, kann irritiren, so wie es
wenigstens im Volksmunde gebraucht wird, ein Beispiel bilden. Wenn der
gewöhnliche Mann sagt: „Laß dich nur nicht irritiren" oder, wie er wirklich
sagt, „irretiren", so meint er damit unbedingt „irre machen, vom Vorsatze ab¬
bringen", während das lateinische irritare reizen, erzürnen bedeutet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/129>, abgerufen am 01.07.2024.