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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Glogau, Pittau, Spandau und Berlin von den Franzosen besetzt, französische
Etappenstraßen und Posten überall: das war das Preußen im Dezember 1812.
Unvergleichlich größer war die Noth als in Oesterreich, unsäglich härter der
Zwang, grimmig und tief der Haß des mißhandelten Volkes. Das Lebens¬
interesse forderte gebieterisch die Losreißung von Frankreich, je eher, desto besser.
Und ganz anders wirkte deshalb hier die Vernichtung der "großen Armee"
und die Forderung, welche auch nach Berlin Napoleon von Dresden aus hatte
gelangen lassen: das preußische Corps in Rußland auf 30,000 Mann zu
bringen*). Was in Wien zur energischen Aufnahme der Vermittlung getrieben,
das brachte in Berlin den Gedanken des Abfalls zum Durchbruch. In der
That ist die letzte Hälfte des Dezembers 1812 für die preußische Politik die
entscheidende Epoche. Drei vertraute Räthe des Königs, Oberst von dem Knese-
beck und die Staatsräthe Albrecht und Ancillon erörterten damals in ausführ¬
lichen Denkschriften die Lage. "Es ist Zeit, die Nemesis ist erwacht", so
eröffnete Knesebeck die seinige. Aber sie athmete das unbedingteste Zutrauen
zu Oesterreich; nur im Bunde mit diesem, dem Knesebeck Riesenkräfte zutraute,
sollte Preußen vorgehen, um für sich den Umfang von 1806 zu erreichen,
Frankreich aus Deutschland (rechts des Rheines) und Italien zu ver¬
drängen, also auch die Auflösung des Rheinbundes zu erzwingen. Er
meinte den Krieg wesentlich nach Süddeutschland zu spielen; dort sollte Oester¬
reich 100,000 Mann aufstellen, während es 60,000 Mann nach Italien und
30,000 Mann nach Preußen zu Hülfe sende**). Ebenso befürwortete Albrecht
das engste Einvernehmen mit Oesterreich. Auch Amillon, ein gewiegter Diplo¬
mat der alten Schule, aber ohne jeden Schwung und ohne eigentliches nationales
Interesse, sprach sich in gleichem Sinne aus, aber er warnte zugleich davor,
die russische Uebermacht gegen die französische einzutauschen und stimmte des¬
halb seine Ansprüche weit unter jedes zulässige Maß herab: er wollte den
Rheinbund bestehen lassen, aber am liebsten unter preußischem und österreichi¬
schem Protektorat, Hannover, Hessen, Braunschweig, Holland wieder herstellen,
sür Preußen nur die polnischen Besitzungen wieder erwerben***). Auf
Grundlage dieser Denkschriften fand am 25. Dezember in Ancillons Wohnung
auf der Jägerstraße die entscheidende Berathung zwischen Ancillon, Knesebeck
und Hardenberg statt, welche der preußischen Politik Richtung und Ziel an¬
wies f). Nicht so ganz einverstanden war Hardenberg mit dem Gedanken des
unbedingten Anschlusses an Oesterreich; wenn dies zögerte, so sollte Preußen
allein handeln. Am nächsten Tage legte er dem König das Ergebniß der Be-






*) Duncker 453. vgl. 455. Hünßer 41.
**) Oncken 107 fs, Duncker 454. Hardenberg - Ranke IV, 343 f.
***
) Duncker 454. Hardenberg-Ranke IV, 340 ff.
f) Hardenberg-Ranke IV, a. a, O- Duncker 458 f.

Glogau, Pittau, Spandau und Berlin von den Franzosen besetzt, französische
Etappenstraßen und Posten überall: das war das Preußen im Dezember 1812.
Unvergleichlich größer war die Noth als in Oesterreich, unsäglich härter der
Zwang, grimmig und tief der Haß des mißhandelten Volkes. Das Lebens¬
interesse forderte gebieterisch die Losreißung von Frankreich, je eher, desto besser.
Und ganz anders wirkte deshalb hier die Vernichtung der „großen Armee"
und die Forderung, welche auch nach Berlin Napoleon von Dresden aus hatte
gelangen lassen: das preußische Corps in Rußland auf 30,000 Mann zu
bringen*). Was in Wien zur energischen Aufnahme der Vermittlung getrieben,
das brachte in Berlin den Gedanken des Abfalls zum Durchbruch. In der
That ist die letzte Hälfte des Dezembers 1812 für die preußische Politik die
entscheidende Epoche. Drei vertraute Räthe des Königs, Oberst von dem Knese-
beck und die Staatsräthe Albrecht und Ancillon erörterten damals in ausführ¬
lichen Denkschriften die Lage. „Es ist Zeit, die Nemesis ist erwacht", so
eröffnete Knesebeck die seinige. Aber sie athmete das unbedingteste Zutrauen
zu Oesterreich; nur im Bunde mit diesem, dem Knesebeck Riesenkräfte zutraute,
sollte Preußen vorgehen, um für sich den Umfang von 1806 zu erreichen,
Frankreich aus Deutschland (rechts des Rheines) und Italien zu ver¬
drängen, also auch die Auflösung des Rheinbundes zu erzwingen. Er
meinte den Krieg wesentlich nach Süddeutschland zu spielen; dort sollte Oester¬
reich 100,000 Mann aufstellen, während es 60,000 Mann nach Italien und
30,000 Mann nach Preußen zu Hülfe sende**). Ebenso befürwortete Albrecht
das engste Einvernehmen mit Oesterreich. Auch Amillon, ein gewiegter Diplo¬
mat der alten Schule, aber ohne jeden Schwung und ohne eigentliches nationales
Interesse, sprach sich in gleichem Sinne aus, aber er warnte zugleich davor,
die russische Uebermacht gegen die französische einzutauschen und stimmte des¬
halb seine Ansprüche weit unter jedes zulässige Maß herab: er wollte den
Rheinbund bestehen lassen, aber am liebsten unter preußischem und österreichi¬
schem Protektorat, Hannover, Hessen, Braunschweig, Holland wieder herstellen,
sür Preußen nur die polnischen Besitzungen wieder erwerben***). Auf
Grundlage dieser Denkschriften fand am 25. Dezember in Ancillons Wohnung
auf der Jägerstraße die entscheidende Berathung zwischen Ancillon, Knesebeck
und Hardenberg statt, welche der preußischen Politik Richtung und Ziel an¬
wies f). Nicht so ganz einverstanden war Hardenberg mit dem Gedanken des
unbedingten Anschlusses an Oesterreich; wenn dies zögerte, so sollte Preußen
allein handeln. Am nächsten Tage legte er dem König das Ergebniß der Be-






*) Duncker 453. vgl. 455. Hünßer 41.
**) Oncken 107 fs, Duncker 454. Hardenberg - Ranke IV, 343 f.
***
) Duncker 454. Hardenberg-Ranke IV, 340 ff.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/11>, abgerufen am 10.01.2025.