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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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allgemeines Aufsehen und zog namentlich auch das Interesse ärztlicher Auto¬
ritäten auf sich. Die nachstehenden Notizen über diesen Gegenstand entnehme
ich den Werken des berühmtesten Chirurgen jener Zeit, des Wilhelm Fabricius
aus Hilden bei Cöln; derselbe war ein frommer und gläubiger Mann, welcher
den in Rede stehenden Erscheinungen die wärmste Aufmerksamkeit zuwandte.
In einem seiner Briefe vom Jahre 1623 heißt es: "Unter den Zeichen und
Wundern, durch welche Gott uns arme sündige Menschen in dieser lasterhaften
Welt zur Buße treiben will, ist meines Erachtens nichts wunderbarer, auch
nichts, welches der menschliche Verstand weniger fassen und begreifen kann,
als wenn wir solche Leute sehen, die in viel Tag, Monat und Jahr ohne
Speis und Trank leben." Er sammelte, was er über dergleichen Fälle konnte
in Erfahrung bringen, und da, wo es unmöglich war, persönlich zu beobachten,
erbat er sich brieflich Auskunft von angesehenen Männern, welche in den be¬
treffenden Gegenden wohnhaft waren. Einige dieser fastenden Mädchen scheinen
außer der Nahrungseuthaltung wenig oder nichts Wunderbares geboten zu
haben; andere jedoch besaßen außerdem die Fähigkeit in die Zukunft zu blicken
und mancherlei Ereignisse vorherzusagen.

Wenn ich bei der rein objectiven Wiedergabe der Erzählung fast durchweg
die deutsche Uebersetzung des Friedrich Greift, vom Jahre 1652, benutze, so
geschieht es nicht ohne vorherige Vergleichung derselben mit dem lateinischen
Texte des Fabricius; ich wühlte aber die Sprache jener Zeit, weil sie zur
Darstellung dieser Dinge besonders geeignet erschien.

Zunächst theilt Fabricius in einem Briefe vom 25. Februar 1602 seinem
Freunde Paul Lentulus in Bern, Folgendes mit: L,rav 1594 ist ein Mägdlein
von ungefähr 14 Jahren aus dem Jülicher Land nach Cöln geführet worden,
da man sie in dem Wirthshaus zum weißen Rößlein auf der breiten Straßen,
als ein sonderbares Wunder den Leuten gewiesen und sehen lassen. Dasselbige
aber, wie seine Eltern gesagt und mit gewissen, wahrhaftigen Zeugnissen dar¬
gethan und bewiesen, habe 3 Jahre lang ohne alle Speis und Trank gelebt.
Ich habe sie mit allem Fleiß besichtigt und alles wohl in acht genommen.
Sie hatte ein traurig-melancholisch Gesicht, am ganzen Körper Fleisch genug,
doch den Leib ausgenommen, (welcher gegen das Rückgrat hineinwärts gedrücket
war) die Leber und innerlichen Glieder, wenn man ihr den Leib mit der Hand
betastet, waren erhärtet, wie bei einem Lez^rrKo. Sie brauchte niemals zu
Stuhl zu gehen oder etwas von sich zu geben. Ob der Speise hatte sie einen
solchen Widerwillen, daß, da einer von denen, welche sie zu besichtigen hin¬
kamen, ihr heimlich ein wenig Zucker in den Mund geschoben, sie alsbald
darüber in eine Ohnmacht gefallen. Aber welches das allerwunderbarlichste
sie konnte dabei wandeln, mit ihresgleichen Mägdlein spielen, tanzen und andere


allgemeines Aufsehen und zog namentlich auch das Interesse ärztlicher Auto¬
ritäten auf sich. Die nachstehenden Notizen über diesen Gegenstand entnehme
ich den Werken des berühmtesten Chirurgen jener Zeit, des Wilhelm Fabricius
aus Hilden bei Cöln; derselbe war ein frommer und gläubiger Mann, welcher
den in Rede stehenden Erscheinungen die wärmste Aufmerksamkeit zuwandte.
In einem seiner Briefe vom Jahre 1623 heißt es: „Unter den Zeichen und
Wundern, durch welche Gott uns arme sündige Menschen in dieser lasterhaften
Welt zur Buße treiben will, ist meines Erachtens nichts wunderbarer, auch
nichts, welches der menschliche Verstand weniger fassen und begreifen kann,
als wenn wir solche Leute sehen, die in viel Tag, Monat und Jahr ohne
Speis und Trank leben." Er sammelte, was er über dergleichen Fälle konnte
in Erfahrung bringen, und da, wo es unmöglich war, persönlich zu beobachten,
erbat er sich brieflich Auskunft von angesehenen Männern, welche in den be¬
treffenden Gegenden wohnhaft waren. Einige dieser fastenden Mädchen scheinen
außer der Nahrungseuthaltung wenig oder nichts Wunderbares geboten zu
haben; andere jedoch besaßen außerdem die Fähigkeit in die Zukunft zu blicken
und mancherlei Ereignisse vorherzusagen.

Wenn ich bei der rein objectiven Wiedergabe der Erzählung fast durchweg
die deutsche Uebersetzung des Friedrich Greift, vom Jahre 1652, benutze, so
geschieht es nicht ohne vorherige Vergleichung derselben mit dem lateinischen
Texte des Fabricius; ich wühlte aber die Sprache jener Zeit, weil sie zur
Darstellung dieser Dinge besonders geeignet erschien.

Zunächst theilt Fabricius in einem Briefe vom 25. Februar 1602 seinem
Freunde Paul Lentulus in Bern, Folgendes mit: L,rav 1594 ist ein Mägdlein
von ungefähr 14 Jahren aus dem Jülicher Land nach Cöln geführet worden,
da man sie in dem Wirthshaus zum weißen Rößlein auf der breiten Straßen,
als ein sonderbares Wunder den Leuten gewiesen und sehen lassen. Dasselbige
aber, wie seine Eltern gesagt und mit gewissen, wahrhaftigen Zeugnissen dar¬
gethan und bewiesen, habe 3 Jahre lang ohne alle Speis und Trank gelebt.
Ich habe sie mit allem Fleiß besichtigt und alles wohl in acht genommen.
Sie hatte ein traurig-melancholisch Gesicht, am ganzen Körper Fleisch genug,
doch den Leib ausgenommen, (welcher gegen das Rückgrat hineinwärts gedrücket
war) die Leber und innerlichen Glieder, wenn man ihr den Leib mit der Hand
betastet, waren erhärtet, wie bei einem Lez^rrKo. Sie brauchte niemals zu
Stuhl zu gehen oder etwas von sich zu geben. Ob der Speise hatte sie einen
solchen Widerwillen, daß, da einer von denen, welche sie zu besichtigen hin¬
kamen, ihr heimlich ein wenig Zucker in den Mund geschoben, sie alsbald
darüber in eine Ohnmacht gefallen. Aber welches das allerwunderbarlichste
sie konnte dabei wandeln, mit ihresgleichen Mägdlein spielen, tanzen und andere


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/78>, abgerufen am 23.07.2024.