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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Sturmvogels aber bedürfte es nicht; schon vorher hatte Galilei einen Versuch
gemacht, das Unwetter zu beschwören. Er schrieb einen. Brief, der im
Ganzen nur die Quintessenz der Vortrage war, die eiuer seiner Schüler,
der Pater Castelli, vor den nächsten Verwandten des Herzogs, seiner Mutter
und der Herzogin von Oesterreich, sicherlich nicht ohne Wissen des Meisters,
wahrscheinlich in dessen Auftrage, gehalten hatte. Der Brief bildete die Grund¬
lage der ersten wirklichen Denunziation, die gegen Galilei erfolgte, deshalb lasse
ich ihn hier folgen:

"Die heilige Schrift kann weder lügen noch irren, aber sie bedarf der
Auslegung, denn wenn man dem buchstäblichen Sinn der Worte folgen wollte,
so würde man nicht nnr Widersprüche, sondern auch Ketzereien und Lästerungen
finden, da mau nothwendiger Weise annehmen müßte, Gott besitze Füße,
Hände, Ohren und menschliche Leidenschaften; menschliche Leidenschaften wie
den Zorn, die Reue, den Haß, ja man müßte mitunter sogar annehmen, daß
er weder ein gutes Gedächtniß besitze, noch die Zukunft vorherwisse ... Da
also solchergestalt die heilige Schrift der Auslegung bedarf, und der wahre
Sinn der Worte sehr verschieden von ihrer jemaligen Bedeutung erscheint, so
scheint mir, daß man in wissenschaftlichen Streitfragen ihre Entscheidung zu
allerletzt anrufe" sollte. In der That sind beide, die heilige Schrift, wie die
Natur, ein Ausfluß des Wesens Gottes, da die eine diktirt ist vom heiligen
Geist, die andere aber die Vvllstreckerin göttlicher Befehle ist; nun aber muß die
heilige Schrift, ans das Verständniß der Menschen berechnet, sich diesem anschließen,
und da differirt denn vielfach der Wortlaut mit der Wirklichkeit. Die Na¬
tur hingegen ist unerbittlich und unveränderlich, sie kümmert sich nicht darum,
ob die Gesetze, nach denen sie handelt, dem Menschengeist offenbar werden oder
nicht, obwohl sie stets nach ihnen wirkt. Wenn wir uns daher bemühen, diesen
Gesetzen ans dem Wege sinnlicher Wahrnehmung nachzuforschen, so ist es nicht
wohlgethan, gegen die Resultate dieser Nachforschungen mit Schriftsteller zu
Felde zu ziehen, die im Gegensatz zu den Naturgesetzen einer stets wechselnden
Auslegung unterworfen, oft derselben bedürftig sind . . . Ich würde es über¬
haupt für klüger halten, wenn man gänzlich verbieten würde, Stellen der
heiligen Schrift gegen Naturgesetze anzuführen, deren Evidenz uns der Augen¬
schein oder gar die Mathematik eines schönen Tages unwiderleglich beweisen
können!"

Während der französische wie der italienische Historiker den Inhalt dieses
Briefes für durchaus wohlgemeint und unverfänglich zu halten scheinen -- ich
sage: scheinen -- waren die ehrwürdigen Väter des heiligen Collegii keinen
Moment dieser Meinung. Ihr Geist war geschult durch die raffinirte Kasuistik
jener sogenannten Kirchenfchriftsteller, welche die schlüpfrigsten Dinge mit ur-


Sturmvogels aber bedürfte es nicht; schon vorher hatte Galilei einen Versuch
gemacht, das Unwetter zu beschwören. Er schrieb einen. Brief, der im
Ganzen nur die Quintessenz der Vortrage war, die eiuer seiner Schüler,
der Pater Castelli, vor den nächsten Verwandten des Herzogs, seiner Mutter
und der Herzogin von Oesterreich, sicherlich nicht ohne Wissen des Meisters,
wahrscheinlich in dessen Auftrage, gehalten hatte. Der Brief bildete die Grund¬
lage der ersten wirklichen Denunziation, die gegen Galilei erfolgte, deshalb lasse
ich ihn hier folgen:

„Die heilige Schrift kann weder lügen noch irren, aber sie bedarf der
Auslegung, denn wenn man dem buchstäblichen Sinn der Worte folgen wollte,
so würde man nicht nnr Widersprüche, sondern auch Ketzereien und Lästerungen
finden, da mau nothwendiger Weise annehmen müßte, Gott besitze Füße,
Hände, Ohren und menschliche Leidenschaften; menschliche Leidenschaften wie
den Zorn, die Reue, den Haß, ja man müßte mitunter sogar annehmen, daß
er weder ein gutes Gedächtniß besitze, noch die Zukunft vorherwisse ... Da
also solchergestalt die heilige Schrift der Auslegung bedarf, und der wahre
Sinn der Worte sehr verschieden von ihrer jemaligen Bedeutung erscheint, so
scheint mir, daß man in wissenschaftlichen Streitfragen ihre Entscheidung zu
allerletzt anrufe» sollte. In der That sind beide, die heilige Schrift, wie die
Natur, ein Ausfluß des Wesens Gottes, da die eine diktirt ist vom heiligen
Geist, die andere aber die Vvllstreckerin göttlicher Befehle ist; nun aber muß die
heilige Schrift, ans das Verständniß der Menschen berechnet, sich diesem anschließen,
und da differirt denn vielfach der Wortlaut mit der Wirklichkeit. Die Na¬
tur hingegen ist unerbittlich und unveränderlich, sie kümmert sich nicht darum,
ob die Gesetze, nach denen sie handelt, dem Menschengeist offenbar werden oder
nicht, obwohl sie stets nach ihnen wirkt. Wenn wir uns daher bemühen, diesen
Gesetzen ans dem Wege sinnlicher Wahrnehmung nachzuforschen, so ist es nicht
wohlgethan, gegen die Resultate dieser Nachforschungen mit Schriftsteller zu
Felde zu ziehen, die im Gegensatz zu den Naturgesetzen einer stets wechselnden
Auslegung unterworfen, oft derselben bedürftig sind . . . Ich würde es über¬
haupt für klüger halten, wenn man gänzlich verbieten würde, Stellen der
heiligen Schrift gegen Naturgesetze anzuführen, deren Evidenz uns der Augen¬
schein oder gar die Mathematik eines schönen Tages unwiderleglich beweisen
können!"

Während der französische wie der italienische Historiker den Inhalt dieses
Briefes für durchaus wohlgemeint und unverfänglich zu halten scheinen — ich
sage: scheinen — waren die ehrwürdigen Väter des heiligen Collegii keinen
Moment dieser Meinung. Ihr Geist war geschult durch die raffinirte Kasuistik
jener sogenannten Kirchenfchriftsteller, welche die schlüpfrigsten Dinge mit ur-


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[0493] Sturmvogels aber bedürfte es nicht; schon vorher hatte Galilei einen Versuch gemacht, das Unwetter zu beschwören. Er schrieb einen. Brief, der im Ganzen nur die Quintessenz der Vortrage war, die eiuer seiner Schüler, der Pater Castelli, vor den nächsten Verwandten des Herzogs, seiner Mutter und der Herzogin von Oesterreich, sicherlich nicht ohne Wissen des Meisters, wahrscheinlich in dessen Auftrage, gehalten hatte. Der Brief bildete die Grund¬ lage der ersten wirklichen Denunziation, die gegen Galilei erfolgte, deshalb lasse ich ihn hier folgen: „Die heilige Schrift kann weder lügen noch irren, aber sie bedarf der Auslegung, denn wenn man dem buchstäblichen Sinn der Worte folgen wollte, so würde man nicht nnr Widersprüche, sondern auch Ketzereien und Lästerungen finden, da mau nothwendiger Weise annehmen müßte, Gott besitze Füße, Hände, Ohren und menschliche Leidenschaften; menschliche Leidenschaften wie den Zorn, die Reue, den Haß, ja man müßte mitunter sogar annehmen, daß er weder ein gutes Gedächtniß besitze, noch die Zukunft vorherwisse ... Da also solchergestalt die heilige Schrift der Auslegung bedarf, und der wahre Sinn der Worte sehr verschieden von ihrer jemaligen Bedeutung erscheint, so scheint mir, daß man in wissenschaftlichen Streitfragen ihre Entscheidung zu allerletzt anrufe» sollte. In der That sind beide, die heilige Schrift, wie die Natur, ein Ausfluß des Wesens Gottes, da die eine diktirt ist vom heiligen Geist, die andere aber die Vvllstreckerin göttlicher Befehle ist; nun aber muß die heilige Schrift, ans das Verständniß der Menschen berechnet, sich diesem anschließen, und da differirt denn vielfach der Wortlaut mit der Wirklichkeit. Die Na¬ tur hingegen ist unerbittlich und unveränderlich, sie kümmert sich nicht darum, ob die Gesetze, nach denen sie handelt, dem Menschengeist offenbar werden oder nicht, obwohl sie stets nach ihnen wirkt. Wenn wir uns daher bemühen, diesen Gesetzen ans dem Wege sinnlicher Wahrnehmung nachzuforschen, so ist es nicht wohlgethan, gegen die Resultate dieser Nachforschungen mit Schriftsteller zu Felde zu ziehen, die im Gegensatz zu den Naturgesetzen einer stets wechselnden Auslegung unterworfen, oft derselben bedürftig sind . . . Ich würde es über¬ haupt für klüger halten, wenn man gänzlich verbieten würde, Stellen der heiligen Schrift gegen Naturgesetze anzuführen, deren Evidenz uns der Augen¬ schein oder gar die Mathematik eines schönen Tages unwiderleglich beweisen können!" Während der französische wie der italienische Historiker den Inhalt dieses Briefes für durchaus wohlgemeint und unverfänglich zu halten scheinen — ich sage: scheinen — waren die ehrwürdigen Väter des heiligen Collegii keinen Moment dieser Meinung. Ihr Geist war geschult durch die raffinirte Kasuistik jener sogenannten Kirchenfchriftsteller, welche die schlüpfrigsten Dinge mit ur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/493>, abgerufen am 26.08.2024.