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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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man nicht Gefahr laufe, erkannt zu werden/' -- Wie das Beispiel des leicht¬
fertigen Abb6s und Memoirenschreibers zeigt und zahlreiche andere Beispiele
bestätigen, trug die Weltgeistlichkeit jener Zeit ihr redliches Theil zur Ausge¬
lassenheit des Festtreibens bei. Der oben angeführte Präsident De Brosses,
der in Privatbriefen meisterhafte Schilderungen des gleichzeitigen Lebens nieder¬
gelegt hat, führt uns auch die jungen Abb6s vor, "die bei einem öffentlichen
Schauspiel in Gegenwart von viertausend Menschen von berühmten Courtisanen
sich mit dem Fächer auf die Nase schlagen lassen", sowie die Nonnen in den
Klöstern, "welche ihre Schönheit ins rechte Licht setzen durch einen reizenden
kleinen Haarputz, ein weit ausgeschnittenes Kleid, das Schultern und Hals
nicht mehr noch minder als bei den Schauspielerinnen sehen läßt." --

Schon gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatten sowohl die
glänzenden Privatfeste wie überhaupt die hervorragende Betheiligung der
Aristokratie aufgehört und das Vergnügen, wie wir aus Goethes Beschreibung
sehen, mehr den Charakter eines Volks- und Straßenfestes angenommen.
Goethe, für dessen klaren Verstand und aristokratische Empfindung übrigens
etwas Peinliches in diesen Tollheiten lag, nennt es "ein Fest, welches das
Volk sich selbst gibt", in dein Jeder -- und so ist es noch hente -- von der
gegebenen Erlaubniß, sich auf eigene Faust nach Gefallen zu belustigen, Ge¬
brauch macht und niemand sich beklagt, wenn er unter den Licenzen ein wenig
leidet. -- Das Privileg, welches zu seiner Zeit die hohen Würdenträger, die
fremden Gesandten, der Gouverneur und der Senat hatten, statt in der Reihe
der übrigen Wagen in der Mitte des Corso ihre Auffahrt zu halten, hat auf¬
gehört wie die übrigen Privilegien. Heute ist nur das der allgemeinen und
unterschiedslosen Belustignngsfreiheit übrig; außerdem, wenn man dies so
nennen will, das der z w eispännigen Wagen, denen allein die Theilnahme an
der Corsofahrt gestattet ist. Der Aufwand an Geist, Witz und ursprünglichem
Vvlkshumvr ist zu Goethes Zeit offenbar noch größer gewesen als er es jetzt ist:
immerhin nimmt man dessen in Rom noch weit mehr wahr, als man in unserer
vlasirten Zeit erwarten sollte.

Was im Jahre 1444 die theologische Fakultät von Paris erklärte: "daß
der Karneval der Christen in seinen Ausgelassenheiten die höchste Aehnlichkeit
mit dem heidnischen habe", wird ihm hente niemand mehr zum Borwurfe
machen. Wohl aber kann man noch mit Goethe sagen; daß "in den Extra¬
vaganzen des römischen Karnevals das deutlichste Bild unserer Existenz" zu
Dr. R. Schoener. sehen ist.




man nicht Gefahr laufe, erkannt zu werden/' — Wie das Beispiel des leicht¬
fertigen Abb6s und Memoirenschreibers zeigt und zahlreiche andere Beispiele
bestätigen, trug die Weltgeistlichkeit jener Zeit ihr redliches Theil zur Ausge¬
lassenheit des Festtreibens bei. Der oben angeführte Präsident De Brosses,
der in Privatbriefen meisterhafte Schilderungen des gleichzeitigen Lebens nieder¬
gelegt hat, führt uns auch die jungen Abb6s vor, „die bei einem öffentlichen
Schauspiel in Gegenwart von viertausend Menschen von berühmten Courtisanen
sich mit dem Fächer auf die Nase schlagen lassen", sowie die Nonnen in den
Klöstern, „welche ihre Schönheit ins rechte Licht setzen durch einen reizenden
kleinen Haarputz, ein weit ausgeschnittenes Kleid, das Schultern und Hals
nicht mehr noch minder als bei den Schauspielerinnen sehen läßt." —

Schon gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatten sowohl die
glänzenden Privatfeste wie überhaupt die hervorragende Betheiligung der
Aristokratie aufgehört und das Vergnügen, wie wir aus Goethes Beschreibung
sehen, mehr den Charakter eines Volks- und Straßenfestes angenommen.
Goethe, für dessen klaren Verstand und aristokratische Empfindung übrigens
etwas Peinliches in diesen Tollheiten lag, nennt es „ein Fest, welches das
Volk sich selbst gibt", in dein Jeder — und so ist es noch hente — von der
gegebenen Erlaubniß, sich auf eigene Faust nach Gefallen zu belustigen, Ge¬
brauch macht und niemand sich beklagt, wenn er unter den Licenzen ein wenig
leidet. — Das Privileg, welches zu seiner Zeit die hohen Würdenträger, die
fremden Gesandten, der Gouverneur und der Senat hatten, statt in der Reihe
der übrigen Wagen in der Mitte des Corso ihre Auffahrt zu halten, hat auf¬
gehört wie die übrigen Privilegien. Heute ist nur das der allgemeinen und
unterschiedslosen Belustignngsfreiheit übrig; außerdem, wenn man dies so
nennen will, das der z w eispännigen Wagen, denen allein die Theilnahme an
der Corsofahrt gestattet ist. Der Aufwand an Geist, Witz und ursprünglichem
Vvlkshumvr ist zu Goethes Zeit offenbar noch größer gewesen als er es jetzt ist:
immerhin nimmt man dessen in Rom noch weit mehr wahr, als man in unserer
vlasirten Zeit erwarten sollte.

Was im Jahre 1444 die theologische Fakultät von Paris erklärte: „daß
der Karneval der Christen in seinen Ausgelassenheiten die höchste Aehnlichkeit
mit dem heidnischen habe", wird ihm hente niemand mehr zum Borwurfe
machen. Wohl aber kann man noch mit Goethe sagen; daß „in den Extra¬
vaganzen des römischen Karnevals das deutlichste Bild unserer Existenz" zu
Dr. R. Schoener. sehen ist.




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[0474] man nicht Gefahr laufe, erkannt zu werden/' — Wie das Beispiel des leicht¬ fertigen Abb6s und Memoirenschreibers zeigt und zahlreiche andere Beispiele bestätigen, trug die Weltgeistlichkeit jener Zeit ihr redliches Theil zur Ausge¬ lassenheit des Festtreibens bei. Der oben angeführte Präsident De Brosses, der in Privatbriefen meisterhafte Schilderungen des gleichzeitigen Lebens nieder¬ gelegt hat, führt uns auch die jungen Abb6s vor, „die bei einem öffentlichen Schauspiel in Gegenwart von viertausend Menschen von berühmten Courtisanen sich mit dem Fächer auf die Nase schlagen lassen", sowie die Nonnen in den Klöstern, „welche ihre Schönheit ins rechte Licht setzen durch einen reizenden kleinen Haarputz, ein weit ausgeschnittenes Kleid, das Schultern und Hals nicht mehr noch minder als bei den Schauspielerinnen sehen läßt." — Schon gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatten sowohl die glänzenden Privatfeste wie überhaupt die hervorragende Betheiligung der Aristokratie aufgehört und das Vergnügen, wie wir aus Goethes Beschreibung sehen, mehr den Charakter eines Volks- und Straßenfestes angenommen. Goethe, für dessen klaren Verstand und aristokratische Empfindung übrigens etwas Peinliches in diesen Tollheiten lag, nennt es „ein Fest, welches das Volk sich selbst gibt", in dein Jeder — und so ist es noch hente — von der gegebenen Erlaubniß, sich auf eigene Faust nach Gefallen zu belustigen, Ge¬ brauch macht und niemand sich beklagt, wenn er unter den Licenzen ein wenig leidet. — Das Privileg, welches zu seiner Zeit die hohen Würdenträger, die fremden Gesandten, der Gouverneur und der Senat hatten, statt in der Reihe der übrigen Wagen in der Mitte des Corso ihre Auffahrt zu halten, hat auf¬ gehört wie die übrigen Privilegien. Heute ist nur das der allgemeinen und unterschiedslosen Belustignngsfreiheit übrig; außerdem, wenn man dies so nennen will, das der z w eispännigen Wagen, denen allein die Theilnahme an der Corsofahrt gestattet ist. Der Aufwand an Geist, Witz und ursprünglichem Vvlkshumvr ist zu Goethes Zeit offenbar noch größer gewesen als er es jetzt ist: immerhin nimmt man dessen in Rom noch weit mehr wahr, als man in unserer vlasirten Zeit erwarten sollte. Was im Jahre 1444 die theologische Fakultät von Paris erklärte: „daß der Karneval der Christen in seinen Ausgelassenheiten die höchste Aehnlichkeit mit dem heidnischen habe", wird ihm hente niemand mehr zum Borwurfe machen. Wohl aber kann man noch mit Goethe sagen; daß „in den Extra¬ vaganzen des römischen Karnevals das deutlichste Bild unserer Existenz" zu Dr. R. Schoener. sehen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/474>, abgerufen am 23.07.2024.