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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Eine weniger erdrückende Concurrenz war hier zu überwinden. Byrons
"Marino Faliero" ist unter den gleichnamigen Stücken von Lindner und
Cnsiinir Delavigne das hervorragendste. Aber wenn es auch hundertmal der
lieben Jugend, die englisch treibt und auch etwas von Byron kennen lernen
soll, in die Hände gegeben wird, weil es leidlich frei ist von starken Stellen,
so ist doch auch Byrons "Marino Faliero" noch lange kein mustergültiges Drama,
noch lange kein "Marino Faliero", wie er sein soll. Es ist im Gegentheil
vielleicht dasjenige Werk Byrons, welches die sprüchwörtliche Unfähigkeit der
Briten, sich in die historischen Eigenthümlichkeiten des Continents einzuleben,
am klarsten darlegt. Und in einem geradezu überraschenden Maße fehlt Byrons
"Marino Faliero", trotz der genauen Kenntniß und der schwermüthigen Bewun¬
derung Venedigs, die ihm innewohnte, die Loealfarbe, die er sonst so meister¬
haft zur Geltung zu bringen weiß; die Loealfarbe im landschaftlichen, wie im
historischen Sinne. Daß wir in Venedig weilen, erfahren wir fast nnr aus
dem sacrarium: "Scene: Der Raum zwischen dem Canal und der Kirche S.
Giovanni; eine Reiterstatue davor." "Der Rath der Zehn sitzt bei San Sal-
vator" -- das erinnert den Leser des Stückes stellenweise an Venedig. Die
Puppen dagegen, welche die Nobili spielen, oder als Verschworene von Frei¬
heit und Gleichheit, oder mit dein Dogen von der menschlichen Niedertracht
im Allgemeinen und der faulen Zukunft für die liebe Vaterstadt im Besondern
reden, kauu man sich mit demselben Recht an jedem andern Ort und um jeden
andern tragischen Stoff versammelt denken. Ja, nicht einmal ein tragischer
Stoff ist absolute Voraussetzung. Wenn der Doge seinen Schwanengesang
anhebt:


"I sps^K to Ums ana to Mörlin^",

so läßt sich dasselbe von Jedem behaupten, der vor tauben Ohren predigt. Auch
Herr Liebknecht pflegt im Reichstag, wenn sich Murren erhebt, zu sagen: "Ich
rede nicht zu Ihnen, ich rede zu denen da draußen." Zur Ewigkeit frei¬
lich nicht.

Ein Dichter, der sich vornahm, bei der dramatischen Gestaltung dieses
Stoffes genauer als dies irgend einer der Vorgänger gethan, die natürliche,
Tragik der geschichtlich überlieferten Handlung und die eigenthümliche An¬
ziehungskraft der Zeit und des Schauplatzes dieser Handlung auf den Zuschauer
und Hörer wirken zu lassen, mußte in wichtigen Stücken seinen Vorgängern
schon überlegen sein.

Die "Grenzboten" haben wiederholt, bei Besprechung des Krnseschen "Moritz
von Sachsen", wie seines "Brutus" zu zeigen versucht, wie Kruse gerade ganz
besonders bestrebt ist, in geschichtlichen Dramen dem Faden der Geschichte zu


Grenzbote" 1. 1877. 28

Eine weniger erdrückende Concurrenz war hier zu überwinden. Byrons
„Marino Faliero" ist unter den gleichnamigen Stücken von Lindner und
Cnsiinir Delavigne das hervorragendste. Aber wenn es auch hundertmal der
lieben Jugend, die englisch treibt und auch etwas von Byron kennen lernen
soll, in die Hände gegeben wird, weil es leidlich frei ist von starken Stellen,
so ist doch auch Byrons „Marino Faliero" noch lange kein mustergültiges Drama,
noch lange kein „Marino Faliero", wie er sein soll. Es ist im Gegentheil
vielleicht dasjenige Werk Byrons, welches die sprüchwörtliche Unfähigkeit der
Briten, sich in die historischen Eigenthümlichkeiten des Continents einzuleben,
am klarsten darlegt. Und in einem geradezu überraschenden Maße fehlt Byrons
„Marino Faliero", trotz der genauen Kenntniß und der schwermüthigen Bewun¬
derung Venedigs, die ihm innewohnte, die Loealfarbe, die er sonst so meister¬
haft zur Geltung zu bringen weiß; die Loealfarbe im landschaftlichen, wie im
historischen Sinne. Daß wir in Venedig weilen, erfahren wir fast nnr aus
dem sacrarium: „Scene: Der Raum zwischen dem Canal und der Kirche S.
Giovanni; eine Reiterstatue davor." „Der Rath der Zehn sitzt bei San Sal-
vator" — das erinnert den Leser des Stückes stellenweise an Venedig. Die
Puppen dagegen, welche die Nobili spielen, oder als Verschworene von Frei¬
heit und Gleichheit, oder mit dein Dogen von der menschlichen Niedertracht
im Allgemeinen und der faulen Zukunft für die liebe Vaterstadt im Besondern
reden, kauu man sich mit demselben Recht an jedem andern Ort und um jeden
andern tragischen Stoff versammelt denken. Ja, nicht einmal ein tragischer
Stoff ist absolute Voraussetzung. Wenn der Doge seinen Schwanengesang
anhebt:


„I sps^K to Ums ana to Mörlin^",

so läßt sich dasselbe von Jedem behaupten, der vor tauben Ohren predigt. Auch
Herr Liebknecht pflegt im Reichstag, wenn sich Murren erhebt, zu sagen: „Ich
rede nicht zu Ihnen, ich rede zu denen da draußen." Zur Ewigkeit frei¬
lich nicht.

Ein Dichter, der sich vornahm, bei der dramatischen Gestaltung dieses
Stoffes genauer als dies irgend einer der Vorgänger gethan, die natürliche,
Tragik der geschichtlich überlieferten Handlung und die eigenthümliche An¬
ziehungskraft der Zeit und des Schauplatzes dieser Handlung auf den Zuschauer
und Hörer wirken zu lassen, mußte in wichtigen Stücken seinen Vorgängern
schon überlegen sein.

Die „Grenzboten" haben wiederholt, bei Besprechung des Krnseschen „Moritz
von Sachsen", wie seines „Brutus" zu zeigen versucht, wie Kruse gerade ganz
besonders bestrebt ist, in geschichtlichen Dramen dem Faden der Geschichte zu


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[0225] Eine weniger erdrückende Concurrenz war hier zu überwinden. Byrons „Marino Faliero" ist unter den gleichnamigen Stücken von Lindner und Cnsiinir Delavigne das hervorragendste. Aber wenn es auch hundertmal der lieben Jugend, die englisch treibt und auch etwas von Byron kennen lernen soll, in die Hände gegeben wird, weil es leidlich frei ist von starken Stellen, so ist doch auch Byrons „Marino Faliero" noch lange kein mustergültiges Drama, noch lange kein „Marino Faliero", wie er sein soll. Es ist im Gegentheil vielleicht dasjenige Werk Byrons, welches die sprüchwörtliche Unfähigkeit der Briten, sich in die historischen Eigenthümlichkeiten des Continents einzuleben, am klarsten darlegt. Und in einem geradezu überraschenden Maße fehlt Byrons „Marino Faliero", trotz der genauen Kenntniß und der schwermüthigen Bewun¬ derung Venedigs, die ihm innewohnte, die Loealfarbe, die er sonst so meister¬ haft zur Geltung zu bringen weiß; die Loealfarbe im landschaftlichen, wie im historischen Sinne. Daß wir in Venedig weilen, erfahren wir fast nnr aus dem sacrarium: „Scene: Der Raum zwischen dem Canal und der Kirche S. Giovanni; eine Reiterstatue davor." „Der Rath der Zehn sitzt bei San Sal- vator" — das erinnert den Leser des Stückes stellenweise an Venedig. Die Puppen dagegen, welche die Nobili spielen, oder als Verschworene von Frei¬ heit und Gleichheit, oder mit dein Dogen von der menschlichen Niedertracht im Allgemeinen und der faulen Zukunft für die liebe Vaterstadt im Besondern reden, kauu man sich mit demselben Recht an jedem andern Ort und um jeden andern tragischen Stoff versammelt denken. Ja, nicht einmal ein tragischer Stoff ist absolute Voraussetzung. Wenn der Doge seinen Schwanengesang anhebt: „I sps^K to Ums ana to Mörlin^", so läßt sich dasselbe von Jedem behaupten, der vor tauben Ohren predigt. Auch Herr Liebknecht pflegt im Reichstag, wenn sich Murren erhebt, zu sagen: „Ich rede nicht zu Ihnen, ich rede zu denen da draußen." Zur Ewigkeit frei¬ lich nicht. Ein Dichter, der sich vornahm, bei der dramatischen Gestaltung dieses Stoffes genauer als dies irgend einer der Vorgänger gethan, die natürliche, Tragik der geschichtlich überlieferten Handlung und die eigenthümliche An¬ ziehungskraft der Zeit und des Schauplatzes dieser Handlung auf den Zuschauer und Hörer wirken zu lassen, mußte in wichtigen Stücken seinen Vorgängern schon überlegen sein. Die „Grenzboten" haben wiederholt, bei Besprechung des Krnseschen „Moritz von Sachsen", wie seines „Brutus" zu zeigen versucht, wie Kruse gerade ganz besonders bestrebt ist, in geschichtlichen Dramen dem Faden der Geschichte zu Grenzbote» 1. 1877. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/225>, abgerufen am 23.07.2024.