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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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folgen und der poetischen Intuition nur insoweit Raum zu geben, als die Ge¬
schichte Lücken oder Räthsel bietet. Daß er vor der dramatischen Gestaltung seines
"Marino Faliero" alle Quellen fleißig nachgelesen, daß er selbst einige Monate
in der Lagunenstadt verbracht hat, um seine Arbeit ganz von dem Colorit der
Zeit und des Schauplatzes durchdringen zu lassen, bedarf bei Kruse kaum der
Erwähnung.

Aber wir haben es mit einem Drama, mit einer freigeschaffenen Nach¬
bildung der geschichtlichen Thatsachen, nicht mit der Geschichte selbst zu thun.
Aus diesem Grunde schon übergehen wir den Nachweis, den Lindau an der
Hand einer einzigen französischen Quelle unternommen hat, zu zeigen, inwie¬
weit Kruse der Geschichte treu geblieben ist. Diese Untersuchung muß nach
den strengen Grundsätzen Kruses, die er "über historische Dramen" selbst vor
wenigen Jahren in der "Gegenwart" veröffentlicht hat, selbstverständlich zu dem
Resultate führen, daß er der Geschichte anch bei dieser tragischen Begebenheit
so weit als nur möglich gefolgt ist. Der Charakter des Dogen, seiner Gattin,
der hervorragendsten Nobili, die den Dogen verderben, sogar der einzelnen Ver¬
schworenen steht historisch fest. Sie so wiederzugeben, wie die Geschichte sie
individuell beglaubigt, war ein großer Fortschritt, den Krnse vor allen seinen
Vorgängern machte. Der Doge ist nicht "eisgrau" wie bei Byron, sondern
ein noch leidlich strammer Degen von einigen sechzig Jahren. Die Signoria
ist nicht die vielköpfige "Hydra" von Coulissentyrannen wie bei Byron, sondern
fein nuancirt in der kaltblütigen Staatsklugheit Barbaros, in dem fröhlichen
Lebemann Contarini u. s. w. Die Dogaressa ist nicht ein intriguanter Blau¬
strumpf wie bei Lindner, und nicht die Nonne, die vor dem "eisgrauen Haupte"
ihres Eheherrn am Altar das Gelübde ewiger Jungfräulichkeit abgelegt hat,
wie bei Byron. Man begreift, daß sie diesen warmblütigen Helden liebt, daß
in ihm noch ein später Frühling eingekehrt ist. Auch der Vorzug, den Krnse
durch die geschichtlich treue Charakterisirung der Verschworenen vor seinen Vor¬
gängern gewinnt, ist bemerkenswerth. Wie mächtig wirkt die Erscheinung des
Baumeisters Calendaro, des Bildhauers Campagna unter den Verschworenen,
da ihnen der Adel für ihre unvergänglichen Schöpfungen kaum das liebe Brot
gewährt und ihnen aus Geiz oder Staudesstolz einer freien Künstlerseele kaum er¬
trägliche Demüthigungen auferlegt. Wie bedenklich stimmt uns von vorne
herein gegen die kriegerische Leistungsfähigkeit dieser Unzufriedenen die Gesell¬
schaft der Krämerseele Spinellis und des feigen Schwätzers Bertram.

Aber ein Räthsel bietet die Tragödie "Marino Faliero".

Der Anlaß zur Verschwörung des Dogen gegen die eigeuen Standesgenossen,
zu seinem Versuche, die Adelsherrschaft in Venedig zu stürzen, um an ihre
Stelle -- ja wer weiß was? -- vielleicht eine Republik mit monarchischer


folgen und der poetischen Intuition nur insoweit Raum zu geben, als die Ge¬
schichte Lücken oder Räthsel bietet. Daß er vor der dramatischen Gestaltung seines
„Marino Faliero" alle Quellen fleißig nachgelesen, daß er selbst einige Monate
in der Lagunenstadt verbracht hat, um seine Arbeit ganz von dem Colorit der
Zeit und des Schauplatzes durchdringen zu lassen, bedarf bei Kruse kaum der
Erwähnung.

Aber wir haben es mit einem Drama, mit einer freigeschaffenen Nach¬
bildung der geschichtlichen Thatsachen, nicht mit der Geschichte selbst zu thun.
Aus diesem Grunde schon übergehen wir den Nachweis, den Lindau an der
Hand einer einzigen französischen Quelle unternommen hat, zu zeigen, inwie¬
weit Kruse der Geschichte treu geblieben ist. Diese Untersuchung muß nach
den strengen Grundsätzen Kruses, die er „über historische Dramen" selbst vor
wenigen Jahren in der „Gegenwart" veröffentlicht hat, selbstverständlich zu dem
Resultate führen, daß er der Geschichte anch bei dieser tragischen Begebenheit
so weit als nur möglich gefolgt ist. Der Charakter des Dogen, seiner Gattin,
der hervorragendsten Nobili, die den Dogen verderben, sogar der einzelnen Ver¬
schworenen steht historisch fest. Sie so wiederzugeben, wie die Geschichte sie
individuell beglaubigt, war ein großer Fortschritt, den Krnse vor allen seinen
Vorgängern machte. Der Doge ist nicht „eisgrau" wie bei Byron, sondern
ein noch leidlich strammer Degen von einigen sechzig Jahren. Die Signoria
ist nicht die vielköpfige „Hydra" von Coulissentyrannen wie bei Byron, sondern
fein nuancirt in der kaltblütigen Staatsklugheit Barbaros, in dem fröhlichen
Lebemann Contarini u. s. w. Die Dogaressa ist nicht ein intriguanter Blau¬
strumpf wie bei Lindner, und nicht die Nonne, die vor dem „eisgrauen Haupte"
ihres Eheherrn am Altar das Gelübde ewiger Jungfräulichkeit abgelegt hat,
wie bei Byron. Man begreift, daß sie diesen warmblütigen Helden liebt, daß
in ihm noch ein später Frühling eingekehrt ist. Auch der Vorzug, den Krnse
durch die geschichtlich treue Charakterisirung der Verschworenen vor seinen Vor¬
gängern gewinnt, ist bemerkenswerth. Wie mächtig wirkt die Erscheinung des
Baumeisters Calendaro, des Bildhauers Campagna unter den Verschworenen,
da ihnen der Adel für ihre unvergänglichen Schöpfungen kaum das liebe Brot
gewährt und ihnen aus Geiz oder Staudesstolz einer freien Künstlerseele kaum er¬
trägliche Demüthigungen auferlegt. Wie bedenklich stimmt uns von vorne
herein gegen die kriegerische Leistungsfähigkeit dieser Unzufriedenen die Gesell¬
schaft der Krämerseele Spinellis und des feigen Schwätzers Bertram.

Aber ein Räthsel bietet die Tragödie „Marino Faliero".

Der Anlaß zur Verschwörung des Dogen gegen die eigeuen Standesgenossen,
zu seinem Versuche, die Adelsherrschaft in Venedig zu stürzen, um an ihre
Stelle — ja wer weiß was? — vielleicht eine Republik mit monarchischer


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[0226] folgen und der poetischen Intuition nur insoweit Raum zu geben, als die Ge¬ schichte Lücken oder Räthsel bietet. Daß er vor der dramatischen Gestaltung seines „Marino Faliero" alle Quellen fleißig nachgelesen, daß er selbst einige Monate in der Lagunenstadt verbracht hat, um seine Arbeit ganz von dem Colorit der Zeit und des Schauplatzes durchdringen zu lassen, bedarf bei Kruse kaum der Erwähnung. Aber wir haben es mit einem Drama, mit einer freigeschaffenen Nach¬ bildung der geschichtlichen Thatsachen, nicht mit der Geschichte selbst zu thun. Aus diesem Grunde schon übergehen wir den Nachweis, den Lindau an der Hand einer einzigen französischen Quelle unternommen hat, zu zeigen, inwie¬ weit Kruse der Geschichte treu geblieben ist. Diese Untersuchung muß nach den strengen Grundsätzen Kruses, die er „über historische Dramen" selbst vor wenigen Jahren in der „Gegenwart" veröffentlicht hat, selbstverständlich zu dem Resultate führen, daß er der Geschichte anch bei dieser tragischen Begebenheit so weit als nur möglich gefolgt ist. Der Charakter des Dogen, seiner Gattin, der hervorragendsten Nobili, die den Dogen verderben, sogar der einzelnen Ver¬ schworenen steht historisch fest. Sie so wiederzugeben, wie die Geschichte sie individuell beglaubigt, war ein großer Fortschritt, den Krnse vor allen seinen Vorgängern machte. Der Doge ist nicht „eisgrau" wie bei Byron, sondern ein noch leidlich strammer Degen von einigen sechzig Jahren. Die Signoria ist nicht die vielköpfige „Hydra" von Coulissentyrannen wie bei Byron, sondern fein nuancirt in der kaltblütigen Staatsklugheit Barbaros, in dem fröhlichen Lebemann Contarini u. s. w. Die Dogaressa ist nicht ein intriguanter Blau¬ strumpf wie bei Lindner, und nicht die Nonne, die vor dem „eisgrauen Haupte" ihres Eheherrn am Altar das Gelübde ewiger Jungfräulichkeit abgelegt hat, wie bei Byron. Man begreift, daß sie diesen warmblütigen Helden liebt, daß in ihm noch ein später Frühling eingekehrt ist. Auch der Vorzug, den Krnse durch die geschichtlich treue Charakterisirung der Verschworenen vor seinen Vor¬ gängern gewinnt, ist bemerkenswerth. Wie mächtig wirkt die Erscheinung des Baumeisters Calendaro, des Bildhauers Campagna unter den Verschworenen, da ihnen der Adel für ihre unvergänglichen Schöpfungen kaum das liebe Brot gewährt und ihnen aus Geiz oder Staudesstolz einer freien Künstlerseele kaum er¬ trägliche Demüthigungen auferlegt. Wie bedenklich stimmt uns von vorne herein gegen die kriegerische Leistungsfähigkeit dieser Unzufriedenen die Gesell¬ schaft der Krämerseele Spinellis und des feigen Schwätzers Bertram. Aber ein Räthsel bietet die Tragödie „Marino Faliero". Der Anlaß zur Verschwörung des Dogen gegen die eigeuen Standesgenossen, zu seinem Versuche, die Adelsherrschaft in Venedig zu stürzen, um an ihre Stelle — ja wer weiß was? — vielleicht eine Republik mit monarchischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/226>, abgerufen am 23.07.2024.