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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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In Chiwa hatte sich indeß die Situation vollständig geändert: der den
Russen freundliche Chan hatte einem anderen, jenen feindlich gesinnten Platz
machen müssen. Das Land war vollständig gerüstet, und die vom Fürsten
Bekowitsch-Tscherkasski vorausgesandte Gesandtschaft wurde von den Chiwesen
gefangen genommen.

Die russische Colonne, welche sich mittlerweile bis auf 140 Werst der
Stadt Chiwa genähert hatte, schlug allerdings die sich ihr entgegenstellenden
Feinde, fand aber selbst durch Verrath ihren Untergang, nachdem Bekowitsch
selbst ermordet war. --

Auch dieser, immerhin mit großer Umsicht und großen Hoffnungen in's
Werk gesetzte vierte Zug der Russen blieb somit ohne directen Erfolg, wenn
auch die zwischen der Wolga und dem Ural wohnenden Kirgiskosaken russische
Unterthanen wurden. Für 122 Jahre -- bis zum Jahre 1839 -- waren die
Beziehungen Rußlands zu Chiwa unterbrochen. Es trat ein Antagonismus
ein, welcher erst in der neuesten Zeit völlig zum Austrag kommeu sollte.

Die russische Grenze in Asien lief im Jahre 1725 längs der Flüsse Ural
und Mijaß auf Kurgan und Omssk, von hier längs des Irtysch und der
Vorberge des Altai zwischen Biissk und dem Telezkischen See hindurch, an
den Quellen des Abakan vorbei nach der jetzigen Grenzlinie mit China hin.
-- Während also das Gebiet aller sich nach Norden ergießenden Ströme in
den Besitz Rußlands schon übergegangen war, gehörte demselben in Mittel-
Asien noch nicht ein Fuß breit Landes.

Das Jahr 1732 führte aber in dieser Beziehung eine große Aenderung
herbei. Die Chane der kleinen und mittleren Horde der Kirgisen Abdulchair
und Schemjaka boten der Kaiserin Anna ihre Unterwerfung an, um sich gegen
ihre eigenen Unterthanen zu schützen. Dem Einfluß ihres ehrgeizigen Günst¬
lings Biron von Kurland nachgebend, trat die Kaiserin die Herrschaft über jene
Gebiete an und kam fo in den Besitz eines Territoriums, das sich im Süden
der damaligen russischen Grenze vom Ural bis zum Balchasch-See erstreckte
und hier an das Gebiet der Großen Horde der Kirgisen stieß. --

Unter der Regierung der Kaiserin Katharina II. erhielt Rußland keinen
Zuwachs an Land in Asien. Wohl aber ließ die große Kaiserin die russische
Macht hier tiefe Wurzeln treiben. Sehr geschickt wußte sie ans den inneren
Händeln und Zwistigkeiten der Völker dort Antheil zu ziehen; das alte Wort
"cliviäe et iwxerg." hatte auch hier seine volle Wirkung.

Abgesehen von den kleinen, meist gegen die eigenen nen erworbenen Unter¬
thanen gerichteten Expeditionen, war in den letzten Jahren des achtzehnten und
den ersten des neunzehnten Jahrhunderts in der asiatischen Politik Rußlands
eine vollständige Ruhepause eingetreten. Die kriegerischen Verwickelungen dieser


In Chiwa hatte sich indeß die Situation vollständig geändert: der den
Russen freundliche Chan hatte einem anderen, jenen feindlich gesinnten Platz
machen müssen. Das Land war vollständig gerüstet, und die vom Fürsten
Bekowitsch-Tscherkasski vorausgesandte Gesandtschaft wurde von den Chiwesen
gefangen genommen.

Die russische Colonne, welche sich mittlerweile bis auf 140 Werst der
Stadt Chiwa genähert hatte, schlug allerdings die sich ihr entgegenstellenden
Feinde, fand aber selbst durch Verrath ihren Untergang, nachdem Bekowitsch
selbst ermordet war. —

Auch dieser, immerhin mit großer Umsicht und großen Hoffnungen in's
Werk gesetzte vierte Zug der Russen blieb somit ohne directen Erfolg, wenn
auch die zwischen der Wolga und dem Ural wohnenden Kirgiskosaken russische
Unterthanen wurden. Für 122 Jahre — bis zum Jahre 1839 — waren die
Beziehungen Rußlands zu Chiwa unterbrochen. Es trat ein Antagonismus
ein, welcher erst in der neuesten Zeit völlig zum Austrag kommeu sollte.

Die russische Grenze in Asien lief im Jahre 1725 längs der Flüsse Ural
und Mijaß auf Kurgan und Omssk, von hier längs des Irtysch und der
Vorberge des Altai zwischen Biissk und dem Telezkischen See hindurch, an
den Quellen des Abakan vorbei nach der jetzigen Grenzlinie mit China hin.
— Während also das Gebiet aller sich nach Norden ergießenden Ströme in
den Besitz Rußlands schon übergegangen war, gehörte demselben in Mittel-
Asien noch nicht ein Fuß breit Landes.

Das Jahr 1732 führte aber in dieser Beziehung eine große Aenderung
herbei. Die Chane der kleinen und mittleren Horde der Kirgisen Abdulchair
und Schemjaka boten der Kaiserin Anna ihre Unterwerfung an, um sich gegen
ihre eigenen Unterthanen zu schützen. Dem Einfluß ihres ehrgeizigen Günst¬
lings Biron von Kurland nachgebend, trat die Kaiserin die Herrschaft über jene
Gebiete an und kam fo in den Besitz eines Territoriums, das sich im Süden
der damaligen russischen Grenze vom Ural bis zum Balchasch-See erstreckte
und hier an das Gebiet der Großen Horde der Kirgisen stieß. —

Unter der Regierung der Kaiserin Katharina II. erhielt Rußland keinen
Zuwachs an Land in Asien. Wohl aber ließ die große Kaiserin die russische
Macht hier tiefe Wurzeln treiben. Sehr geschickt wußte sie ans den inneren
Händeln und Zwistigkeiten der Völker dort Antheil zu ziehen; das alte Wort
„cliviäe et iwxerg." hatte auch hier seine volle Wirkung.

Abgesehen von den kleinen, meist gegen die eigenen nen erworbenen Unter¬
thanen gerichteten Expeditionen, war in den letzten Jahren des achtzehnten und
den ersten des neunzehnten Jahrhunderts in der asiatischen Politik Rußlands
eine vollständige Ruhepause eingetreten. Die kriegerischen Verwickelungen dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/19>, abgerufen am 03.07.2024.