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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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von Harms um so mehr anzuerkennen, und vielleicht um so wirksamer, die Erkenntniß
"nieder zu wecken, daß gerade das Christenthum es ist, welches die Probleme brachte,
die das Leben des Denkens der neuen Zeit bilden und deu Triumph derselben, die
Naturwissenschaft, ermöglichten. Freilich ist heutzutage oft kein Begriff verderb¬
licher für die Wissenschaft als der Schöpfungsbegriff, aber mit Recht sagt Harms S.
33: "Die Schöpfung setzt ein wahres Entstehen und die Möglichkeit einer Geschichte.
Die Evolutions-und Emanationslehren kennen nnr eine Metamorphose ins Bessere
oder ins Schlechtere, aber sie kennen keine Thaten und keine Thatsachen."
Derselbe Gedanke liegt zu Grunde, wenn Kant in seinen Anfangsgründen zur
Naturwissenschaft sagt: "Das Gesetz der Trägheit ermöglicht eine Naturwissen¬
schaft, das Aufhören desselben wäre der Tod der Wissenschaft, wäre Hylv-
zoism." Denn Hylozoism ist Evolution, und diese kennt nur stete Umwand¬
lung, aber kein thatsächliches Bestehen nach inneren ewigen Gesetzen, kein Ver¬
harren in einer bestimmten Natur, d. i. in einer bestimmten Art und Weise
des Keims und der Wirkungsweise. Mit Recht bringt daher Harms die Gründung
der Naturwissenschaft in Zusammenhang mit der Reform des Glaubens. Es ist kein
Zufall, daß die Entdeckung des Trägheitsgesetzes fiel in eine Zeit, in der man sich
frei machen wollte von der mittelalterlichen Vorstellung, daß Gott in seiner Frei¬
heit und Gnade ein Gott der schrankenlosen Willkür sei. Es ist kein Zufall, daß
in die Zeit des Auflebens der Vorstellung, daß die Schöpfung kein willkürlich
veränderlich Machwerk sei, sondern als eine Welt des Bestehens nach inneren
ewigen Gesetzen gewollt würde, die Entdeckung des Gravitationsgesetzes fiel.
Mit dieser Entdeckung tritt das Problem auf, die Materie als Kraft zu denken.
Eigentlich hatte schon Newton das Problem gelöst, indem er als dynamische
Natur der Materie ihre gravitirende Wirkungsweise zeigte; aber in der Philo¬
sophie ist es Kant, welcher den Dynamismus der Materie begründete. Solche
Probleme bilden jetzt das Leben in der Philosophie.

In dieser zweiten Periode der Geschichte der Philosophie unterscheidet
Harms zwei Richtungen. Die eine, die er die englische nennt, da sie von Baco
ausgeht, betrachtet die empirische Erfahrungswissenschaft als Ideal der Wissen¬
schaft; sie führt zum Sensualismus, und die Philosophie selbst erscheint in
ihr nur als empirische Psychologie (S. 27). In der anderen Richtung, welche
Harms die französische nennt, da sie von Cartesius gegründet ist, gilt die
Mathematik als Ideal der Wissenschaft und zugleich als die Aufgabe und die
Methode der Philosophie bestimmend (S. 27). Sie führt zum Rationalismus,
da sie die Vernunft allein als Quell der Erkenntniß gelten lassen will. Seit¬
her hatte man zwischen Körper und Geist uur eiuen Gradunterschied ange¬
nommen; jener hieß schwerer beweglich als dieser. Aristoteles sagte: der Körper
ermüdet eher wie der Geist, Nun aber wird durch Cartesius die specifische Ver-


von Harms um so mehr anzuerkennen, und vielleicht um so wirksamer, die Erkenntniß
»nieder zu wecken, daß gerade das Christenthum es ist, welches die Probleme brachte,
die das Leben des Denkens der neuen Zeit bilden und deu Triumph derselben, die
Naturwissenschaft, ermöglichten. Freilich ist heutzutage oft kein Begriff verderb¬
licher für die Wissenschaft als der Schöpfungsbegriff, aber mit Recht sagt Harms S.
33: „Die Schöpfung setzt ein wahres Entstehen und die Möglichkeit einer Geschichte.
Die Evolutions-und Emanationslehren kennen nnr eine Metamorphose ins Bessere
oder ins Schlechtere, aber sie kennen keine Thaten und keine Thatsachen."
Derselbe Gedanke liegt zu Grunde, wenn Kant in seinen Anfangsgründen zur
Naturwissenschaft sagt: „Das Gesetz der Trägheit ermöglicht eine Naturwissen¬
schaft, das Aufhören desselben wäre der Tod der Wissenschaft, wäre Hylv-
zoism." Denn Hylozoism ist Evolution, und diese kennt nur stete Umwand¬
lung, aber kein thatsächliches Bestehen nach inneren ewigen Gesetzen, kein Ver¬
harren in einer bestimmten Natur, d. i. in einer bestimmten Art und Weise
des Keims und der Wirkungsweise. Mit Recht bringt daher Harms die Gründung
der Naturwissenschaft in Zusammenhang mit der Reform des Glaubens. Es ist kein
Zufall, daß die Entdeckung des Trägheitsgesetzes fiel in eine Zeit, in der man sich
frei machen wollte von der mittelalterlichen Vorstellung, daß Gott in seiner Frei¬
heit und Gnade ein Gott der schrankenlosen Willkür sei. Es ist kein Zufall, daß
in die Zeit des Auflebens der Vorstellung, daß die Schöpfung kein willkürlich
veränderlich Machwerk sei, sondern als eine Welt des Bestehens nach inneren
ewigen Gesetzen gewollt würde, die Entdeckung des Gravitationsgesetzes fiel.
Mit dieser Entdeckung tritt das Problem auf, die Materie als Kraft zu denken.
Eigentlich hatte schon Newton das Problem gelöst, indem er als dynamische
Natur der Materie ihre gravitirende Wirkungsweise zeigte; aber in der Philo¬
sophie ist es Kant, welcher den Dynamismus der Materie begründete. Solche
Probleme bilden jetzt das Leben in der Philosophie.

In dieser zweiten Periode der Geschichte der Philosophie unterscheidet
Harms zwei Richtungen. Die eine, die er die englische nennt, da sie von Baco
ausgeht, betrachtet die empirische Erfahrungswissenschaft als Ideal der Wissen¬
schaft; sie führt zum Sensualismus, und die Philosophie selbst erscheint in
ihr nur als empirische Psychologie (S. 27). In der anderen Richtung, welche
Harms die französische nennt, da sie von Cartesius gegründet ist, gilt die
Mathematik als Ideal der Wissenschaft und zugleich als die Aufgabe und die
Methode der Philosophie bestimmend (S. 27). Sie führt zum Rationalismus,
da sie die Vernunft allein als Quell der Erkenntniß gelten lassen will. Seit¬
her hatte man zwischen Körper und Geist uur eiuen Gradunterschied ange¬
nommen; jener hieß schwerer beweglich als dieser. Aristoteles sagte: der Körper
ermüdet eher wie der Geist, Nun aber wird durch Cartesius die specifische Ver-


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[0173] von Harms um so mehr anzuerkennen, und vielleicht um so wirksamer, die Erkenntniß »nieder zu wecken, daß gerade das Christenthum es ist, welches die Probleme brachte, die das Leben des Denkens der neuen Zeit bilden und deu Triumph derselben, die Naturwissenschaft, ermöglichten. Freilich ist heutzutage oft kein Begriff verderb¬ licher für die Wissenschaft als der Schöpfungsbegriff, aber mit Recht sagt Harms S. 33: „Die Schöpfung setzt ein wahres Entstehen und die Möglichkeit einer Geschichte. Die Evolutions-und Emanationslehren kennen nnr eine Metamorphose ins Bessere oder ins Schlechtere, aber sie kennen keine Thaten und keine Thatsachen." Derselbe Gedanke liegt zu Grunde, wenn Kant in seinen Anfangsgründen zur Naturwissenschaft sagt: „Das Gesetz der Trägheit ermöglicht eine Naturwissen¬ schaft, das Aufhören desselben wäre der Tod der Wissenschaft, wäre Hylv- zoism." Denn Hylozoism ist Evolution, und diese kennt nur stete Umwand¬ lung, aber kein thatsächliches Bestehen nach inneren ewigen Gesetzen, kein Ver¬ harren in einer bestimmten Natur, d. i. in einer bestimmten Art und Weise des Keims und der Wirkungsweise. Mit Recht bringt daher Harms die Gründung der Naturwissenschaft in Zusammenhang mit der Reform des Glaubens. Es ist kein Zufall, daß die Entdeckung des Trägheitsgesetzes fiel in eine Zeit, in der man sich frei machen wollte von der mittelalterlichen Vorstellung, daß Gott in seiner Frei¬ heit und Gnade ein Gott der schrankenlosen Willkür sei. Es ist kein Zufall, daß in die Zeit des Auflebens der Vorstellung, daß die Schöpfung kein willkürlich veränderlich Machwerk sei, sondern als eine Welt des Bestehens nach inneren ewigen Gesetzen gewollt würde, die Entdeckung des Gravitationsgesetzes fiel. Mit dieser Entdeckung tritt das Problem auf, die Materie als Kraft zu denken. Eigentlich hatte schon Newton das Problem gelöst, indem er als dynamische Natur der Materie ihre gravitirende Wirkungsweise zeigte; aber in der Philo¬ sophie ist es Kant, welcher den Dynamismus der Materie begründete. Solche Probleme bilden jetzt das Leben in der Philosophie. In dieser zweiten Periode der Geschichte der Philosophie unterscheidet Harms zwei Richtungen. Die eine, die er die englische nennt, da sie von Baco ausgeht, betrachtet die empirische Erfahrungswissenschaft als Ideal der Wissen¬ schaft; sie führt zum Sensualismus, und die Philosophie selbst erscheint in ihr nur als empirische Psychologie (S. 27). In der anderen Richtung, welche Harms die französische nennt, da sie von Cartesius gegründet ist, gilt die Mathematik als Ideal der Wissenschaft und zugleich als die Aufgabe und die Methode der Philosophie bestimmend (S. 27). Sie führt zum Rationalismus, da sie die Vernunft allein als Quell der Erkenntniß gelten lassen will. Seit¬ her hatte man zwischen Körper und Geist uur eiuen Gradunterschied ange¬ nommen; jener hieß schwerer beweglich als dieser. Aristoteles sagte: der Körper ermüdet eher wie der Geist, Nun aber wird durch Cartesius die specifische Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/173>, abgerufen am 23.07.2024.