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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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schiedenheit beider erkannt und damit die mechanische Naturwissenschaft ermög¬
licht (S. 49). Diese führte bald zum Naturalismus, indem man die mecha¬
nische Erklärungsweise auf das ethische Leben des Geistes übertrug (S. 50).
Spinoza's Ethik ist nur eine Physik, die mit einer Ethik verwechselt
wird (51).

Ich möchte hier hinzufügen, daß die Opposition des Cartesius gegen New¬
ton's Gravitationsgesetz mitwirkte bei seiner Definition: die Materie ist die
Ausdehnung. Dies ist die Erklärung des mathematisch-geometrischen Stand¬
punktes, aber nicht die des mathematisch-dynamischen der Physiker aus New¬
ton's Schule. Und diese Ergänzung brachten die Deutschen. Denn nach Harms
stehen in Deutschland am Anfang dieser Periode der Vorläufer des Coperni-
cus, Nicolaus Cusanus (S. 5), am Ende Leibniz. Dieser erweitert die mecha¬
nische Erklärungsart, indem er ihr eine dynamische Grundlage giebt. Nicht in
der Ausdehnung der Materie, sondern in den Kräften der einfachen Substanzen
liegt ihm der Grund der mechanischen Bewegung (9). Zugleich aber schränkt
er den Rationalismus ein, dnrch den Hinweis auf die Wahrheit der That¬
sachen, die, wie die Naturgesetze, nicht aus der Vernunft allein zu entwickeln
seien (S. 45). Scheint er hiermit auch auf dem empirischen Boden der Eng¬
länder zu stehen, so tritt er doch in seinem Streit mit Locke dem Sensualismus
entgegen und vertheidigt deu metaphysischen Charakter der Philosophie (19).
Zeigen sich nun auch in dem Dynamismus seiner Monadenlehre und in dem
theosophischen Moment seiner Philosophie Ausdrücke einer eigenthümlichen
Richtung des deutschen Geistes, die originalster ans demselben entstanden ist, so
zeigt doch auch wieder die Stellung, die er der Mathematik, sogar noch
höher wie Cartesius es that, einräumt, wie er nur eine Richtung des Den¬
kens abschließt, die mit Cartesius begann (7).

Die dritte Periode neueuropäischer Philosophie enthält die Geschichte der
Philosophie seit Kant. In ihr gilt die Philosophie als die freie, unabhängige
Wissenschaft, die sich ihren Begriff weder von der Empirie, noch von der
Theologie vorschreiben läßt, sie ist die Wissenschaft, welche den Begriff
aller Wissenschaft bestimmt und sich selbst begründet, indem sie den Begriff der
Wissenschaften erklärt. Dem früheren Dogmatismus setzte sich Kant mit dem
Kriticismus entgegen, dessen Aufgabe es sein will, die Möglichkeit oder den
Begriff des Erkennens zu erforschen.

Alle Erkenntniß sei aus der Vernunft zu begründen. Die freie, unab¬
hängige Wissenschaft, welche die griechische Philosophie sein wollte, ist somit
seit Kant wieder erwacht (28). Weder einseitig in den Dienst der Theologie, noch
einseitig in den Dienst der Physik hat sich die deutsche Philosophie gestellt; sie will mit
religiösem Sinn die Erkenntniß der Naturwissenschaften und mit ihrer Erkennt-


schiedenheit beider erkannt und damit die mechanische Naturwissenschaft ermög¬
licht (S. 49). Diese führte bald zum Naturalismus, indem man die mecha¬
nische Erklärungsweise auf das ethische Leben des Geistes übertrug (S. 50).
Spinoza's Ethik ist nur eine Physik, die mit einer Ethik verwechselt
wird (51).

Ich möchte hier hinzufügen, daß die Opposition des Cartesius gegen New¬
ton's Gravitationsgesetz mitwirkte bei seiner Definition: die Materie ist die
Ausdehnung. Dies ist die Erklärung des mathematisch-geometrischen Stand¬
punktes, aber nicht die des mathematisch-dynamischen der Physiker aus New¬
ton's Schule. Und diese Ergänzung brachten die Deutschen. Denn nach Harms
stehen in Deutschland am Anfang dieser Periode der Vorläufer des Coperni-
cus, Nicolaus Cusanus (S. 5), am Ende Leibniz. Dieser erweitert die mecha¬
nische Erklärungsart, indem er ihr eine dynamische Grundlage giebt. Nicht in
der Ausdehnung der Materie, sondern in den Kräften der einfachen Substanzen
liegt ihm der Grund der mechanischen Bewegung (9). Zugleich aber schränkt
er den Rationalismus ein, dnrch den Hinweis auf die Wahrheit der That¬
sachen, die, wie die Naturgesetze, nicht aus der Vernunft allein zu entwickeln
seien (S. 45). Scheint er hiermit auch auf dem empirischen Boden der Eng¬
länder zu stehen, so tritt er doch in seinem Streit mit Locke dem Sensualismus
entgegen und vertheidigt deu metaphysischen Charakter der Philosophie (19).
Zeigen sich nun auch in dem Dynamismus seiner Monadenlehre und in dem
theosophischen Moment seiner Philosophie Ausdrücke einer eigenthümlichen
Richtung des deutschen Geistes, die originalster ans demselben entstanden ist, so
zeigt doch auch wieder die Stellung, die er der Mathematik, sogar noch
höher wie Cartesius es that, einräumt, wie er nur eine Richtung des Den¬
kens abschließt, die mit Cartesius begann (7).

Die dritte Periode neueuropäischer Philosophie enthält die Geschichte der
Philosophie seit Kant. In ihr gilt die Philosophie als die freie, unabhängige
Wissenschaft, die sich ihren Begriff weder von der Empirie, noch von der
Theologie vorschreiben läßt, sie ist die Wissenschaft, welche den Begriff
aller Wissenschaft bestimmt und sich selbst begründet, indem sie den Begriff der
Wissenschaften erklärt. Dem früheren Dogmatismus setzte sich Kant mit dem
Kriticismus entgegen, dessen Aufgabe es sein will, die Möglichkeit oder den
Begriff des Erkennens zu erforschen.

Alle Erkenntniß sei aus der Vernunft zu begründen. Die freie, unab¬
hängige Wissenschaft, welche die griechische Philosophie sein wollte, ist somit
seit Kant wieder erwacht (28). Weder einseitig in den Dienst der Theologie, noch
einseitig in den Dienst der Physik hat sich die deutsche Philosophie gestellt; sie will mit
religiösem Sinn die Erkenntniß der Naturwissenschaften und mit ihrer Erkennt-


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[0174] schiedenheit beider erkannt und damit die mechanische Naturwissenschaft ermög¬ licht (S. 49). Diese führte bald zum Naturalismus, indem man die mecha¬ nische Erklärungsweise auf das ethische Leben des Geistes übertrug (S. 50). Spinoza's Ethik ist nur eine Physik, die mit einer Ethik verwechselt wird (51). Ich möchte hier hinzufügen, daß die Opposition des Cartesius gegen New¬ ton's Gravitationsgesetz mitwirkte bei seiner Definition: die Materie ist die Ausdehnung. Dies ist die Erklärung des mathematisch-geometrischen Stand¬ punktes, aber nicht die des mathematisch-dynamischen der Physiker aus New¬ ton's Schule. Und diese Ergänzung brachten die Deutschen. Denn nach Harms stehen in Deutschland am Anfang dieser Periode der Vorläufer des Coperni- cus, Nicolaus Cusanus (S. 5), am Ende Leibniz. Dieser erweitert die mecha¬ nische Erklärungsart, indem er ihr eine dynamische Grundlage giebt. Nicht in der Ausdehnung der Materie, sondern in den Kräften der einfachen Substanzen liegt ihm der Grund der mechanischen Bewegung (9). Zugleich aber schränkt er den Rationalismus ein, dnrch den Hinweis auf die Wahrheit der That¬ sachen, die, wie die Naturgesetze, nicht aus der Vernunft allein zu entwickeln seien (S. 45). Scheint er hiermit auch auf dem empirischen Boden der Eng¬ länder zu stehen, so tritt er doch in seinem Streit mit Locke dem Sensualismus entgegen und vertheidigt deu metaphysischen Charakter der Philosophie (19). Zeigen sich nun auch in dem Dynamismus seiner Monadenlehre und in dem theosophischen Moment seiner Philosophie Ausdrücke einer eigenthümlichen Richtung des deutschen Geistes, die originalster ans demselben entstanden ist, so zeigt doch auch wieder die Stellung, die er der Mathematik, sogar noch höher wie Cartesius es that, einräumt, wie er nur eine Richtung des Den¬ kens abschließt, die mit Cartesius begann (7). Die dritte Periode neueuropäischer Philosophie enthält die Geschichte der Philosophie seit Kant. In ihr gilt die Philosophie als die freie, unabhängige Wissenschaft, die sich ihren Begriff weder von der Empirie, noch von der Theologie vorschreiben läßt, sie ist die Wissenschaft, welche den Begriff aller Wissenschaft bestimmt und sich selbst begründet, indem sie den Begriff der Wissenschaften erklärt. Dem früheren Dogmatismus setzte sich Kant mit dem Kriticismus entgegen, dessen Aufgabe es sein will, die Möglichkeit oder den Begriff des Erkennens zu erforschen. Alle Erkenntniß sei aus der Vernunft zu begründen. Die freie, unab¬ hängige Wissenschaft, welche die griechische Philosophie sein wollte, ist somit seit Kant wieder erwacht (28). Weder einseitig in den Dienst der Theologie, noch einseitig in den Dienst der Physik hat sich die deutsche Philosophie gestellt; sie will mit religiösem Sinn die Erkenntniß der Naturwissenschaften und mit ihrer Erkennt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/174>, abgerufen am 23.07.2024.