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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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auf alle Objecte des Erkennens, woraus der Naturalismus als die Weltansicht
der Wissenschaften im Gegensatze zu dem Supranaturalismus des Mittelalters
entstanden ist. Die Natur gilt als das alleinige Object der wissenschaftlichen
Erkenntniß, und Alles was ist, ist Natur (45. 46). Wiederhersteller wollte
man in dieser Zeit das, von dem man sich dachte, daß es über der einseitig
theologischen Richtung des Mittelalters verloren gegangen sei (38).

Insofern uun Harms selbst S. 4 richtig sagt: "Die moderne Natnrwisseu-
schnft hat sich wesentlich aus der Polemik gegen die Natnrbegriffe des Aristo¬
teles gebildet", könnte man fragen, ob es richtig sei, diese Zeit eine Zeit der
Wiederherstellung zu nennen. Denn in der That nicht um Wiederherstellung
griechischer Wissenschaft handelt es sich, sondern um Befreiung von griechischen
Irrthümern. Ich erinnere nur an die Fallgesetze Galilei's und an das Un¬
glück des Mannes, das der Haß der Aristoteliker über ihn brachte. Und doch
muß man von Wiederherstellung reden, denn wiederhergestellt ward die Freiheit
der Wissenschaft, wenn auch erst mit Kant die volle Klarheit dieses Princips kam.
Kein Volk hatte wie die Griechen eine Wissenschaft erstrebt, nur im Interesse
der Wahrheit; eine Wissenschaft, welche zugleich, frei von der Autorität der
Priester, nur aus der Vernunft geboren sein sollte. Und solches Streben, solcher
Geist der Wissenschaft ward seit dem Ausgang des Mittelalters wiederherge¬
stellt. Treffend sagt Harms: Wir finden in dieser Zeit das Streben nach einer
selbständigen, freien, unabhängigen Forschung, was man etwas unpassend die
Subjectivität der Modernen genannt hat. In der Erforschung der Wahrheit
wollte mau durch keine Autorität, weder durch die des Aristoteles, noch durch
die der Kirche gebunden sein. Diese Freiheit hoffte man zuerst in der Sprach¬
forschung und Philologie zu finden. Aber die Philologie führt uur zur Er-
kenntniß des von den Alten bereits Erkannten; und mau wollte Neues haben
zur Ergänzung der mittelalterlichen Einseitigkeit. Hierzu waren andere Mittel
nöthig, als das Studium der Alten. Mau verwarf sie daher als Führer der
Erkenntniß; nur die eigene, durch das Leben gewonnene Erfahrung sollte in
allen Dingen entscheiden. Und so entstanden ans dieser Maxime des Denkens die
empirischen Naturwissenschaften, die nnr fälschlich als Erneuerung des Heiden-
thums betrachtet werden. Ihre Gründung steht im Zusammenhang mit der
Reform des christlichen Glaubens und der Kirche, da beides aus dem gleichen
Streben nach einer Selbständigkeit des Lebens und des Denkens auf der
Grundlage selbsterwvrbener Empirie entstanden ist. (S. 39. 40).

Das über die mittelalterliche Philosophie und über die Wiederherstellung
der Wissenschaften Gesagte gehört zu dem Trefflichsten in der klaren, lichtvollen
Arbeit von Harms. Und in unserer Zeit, wo das Christenthum so gern als der
Tod aller Wissenschaft hingestellt wird, da ist der ruhige, uupolemische Ton


auf alle Objecte des Erkennens, woraus der Naturalismus als die Weltansicht
der Wissenschaften im Gegensatze zu dem Supranaturalismus des Mittelalters
entstanden ist. Die Natur gilt als das alleinige Object der wissenschaftlichen
Erkenntniß, und Alles was ist, ist Natur (45. 46). Wiederhersteller wollte
man in dieser Zeit das, von dem man sich dachte, daß es über der einseitig
theologischen Richtung des Mittelalters verloren gegangen sei (38).

Insofern uun Harms selbst S. 4 richtig sagt: „Die moderne Natnrwisseu-
schnft hat sich wesentlich aus der Polemik gegen die Natnrbegriffe des Aristo¬
teles gebildet", könnte man fragen, ob es richtig sei, diese Zeit eine Zeit der
Wiederherstellung zu nennen. Denn in der That nicht um Wiederherstellung
griechischer Wissenschaft handelt es sich, sondern um Befreiung von griechischen
Irrthümern. Ich erinnere nur an die Fallgesetze Galilei's und an das Un¬
glück des Mannes, das der Haß der Aristoteliker über ihn brachte. Und doch
muß man von Wiederherstellung reden, denn wiederhergestellt ward die Freiheit
der Wissenschaft, wenn auch erst mit Kant die volle Klarheit dieses Princips kam.
Kein Volk hatte wie die Griechen eine Wissenschaft erstrebt, nur im Interesse
der Wahrheit; eine Wissenschaft, welche zugleich, frei von der Autorität der
Priester, nur aus der Vernunft geboren sein sollte. Und solches Streben, solcher
Geist der Wissenschaft ward seit dem Ausgang des Mittelalters wiederherge¬
stellt. Treffend sagt Harms: Wir finden in dieser Zeit das Streben nach einer
selbständigen, freien, unabhängigen Forschung, was man etwas unpassend die
Subjectivität der Modernen genannt hat. In der Erforschung der Wahrheit
wollte mau durch keine Autorität, weder durch die des Aristoteles, noch durch
die der Kirche gebunden sein. Diese Freiheit hoffte man zuerst in der Sprach¬
forschung und Philologie zu finden. Aber die Philologie führt uur zur Er-
kenntniß des von den Alten bereits Erkannten; und mau wollte Neues haben
zur Ergänzung der mittelalterlichen Einseitigkeit. Hierzu waren andere Mittel
nöthig, als das Studium der Alten. Mau verwarf sie daher als Führer der
Erkenntniß; nur die eigene, durch das Leben gewonnene Erfahrung sollte in
allen Dingen entscheiden. Und so entstanden ans dieser Maxime des Denkens die
empirischen Naturwissenschaften, die nnr fälschlich als Erneuerung des Heiden-
thums betrachtet werden. Ihre Gründung steht im Zusammenhang mit der
Reform des christlichen Glaubens und der Kirche, da beides aus dem gleichen
Streben nach einer Selbständigkeit des Lebens und des Denkens auf der
Grundlage selbsterwvrbener Empirie entstanden ist. (S. 39. 40).

Das über die mittelalterliche Philosophie und über die Wiederherstellung
der Wissenschaften Gesagte gehört zu dem Trefflichsten in der klaren, lichtvollen
Arbeit von Harms. Und in unserer Zeit, wo das Christenthum so gern als der
Tod aller Wissenschaft hingestellt wird, da ist der ruhige, uupolemische Ton


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/172>, abgerufen am 23.07.2024.