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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Solche, die entweder kein Auge für öffentliche Angelegenheiten haben, oder
ihre eigene Angst davor zu beschwichtigen, sich selbst zu täuschen suchen, oder
endlich Männer, deren Stellung sie verpflichtete, den Kampf aufzunehmen,
die es aber aus irgend welchem Grunde nicht mögen, oder nicht vermögen.

Die Zeit sei gut, die Zeit sei schlecht, die Propaganda verfolgt ihren
Weg. Sie zeigt darin Aehnlichkeit mit dem Wirthshausbesuch. Gedeihen Han¬
del und Gewerbe, so hat auch die untere Klasse reichlichen Verdienst, kann
etwas draufgehen lassen und thut es; fließen die Einnahmen kärglich, so sucht
man beim Glase seine Noth zu vergessen und die Bierstuben füllen sich nicht
minder oder noch mehr. Auch die socialdemokratische Agitation versteht bei
günstigem und bei widrigem Winde vorwärts zu kommen und die Segel da¬
nach zu stellen. Ihr Weizen blüht mit der allgemeinen Geschäftslage, denn
alsdann sind "Hände" gesucht, können hohen Lohn verlangen, nöthigenfalls
striken oder Strikes unterstützen, ertrotzen da nicht selten zeitweilig Löhne,
die nach allen Seiten hin schädlich wirken, Gewerbszweige zu Grunde richten
und die Arbeiter entsittlichen, anspruchsvoller, unzufriedener machen. Stocken
hingegen Industrie und Handel, so wird die Lage der unteren Bevölkerungs¬
schichten so elend, daß es nicht Wunder nehmen kann, wenn die Aermsten in
ihrer Verzweiflung tollen Vorspiegelungen Glauben schenken. Treiben doch
Quacksalber und Marktschreier ihr Wesen nie erfolgreicher, als bei großen
Epidemien.

Geben wir uns also keiner Selbsttäuschung hin. Die socialdemokratische
Werbetrommel wirbelt mit Erfolg von Spanien und Italien bis Polen und
Rußland in den verschiedensten europäischen, auch in transatlantischen Län¬
dern, am lautesten und wirksamsten zur Zeit in Deutschland, noch wirksamer,
als im Vaterlande des Socialismus jenseits der Vogesen. Neue und immer
neue Schaaren strömen hinzu, werden in der geschicktesten Weise exercirt,
zum Theil enthusiasmirt, an Gehorsam, Vertrauen auf die Führer, an Muth
und Thatenlust fehlt's nicht.

Einen sicheren Maßstab für die unmoralische Stärke der Partei giebt
weder der Gesammtabsatz ihrer Organe, noch die Summe der Cassenbeiträge,
denn in verdienstlosen Zeiten pflegt stets eine Anzahl Abonnenten von den
Blättern abzuspringen, pflegen die einzelnen Nummern aber desto mehr von Hand
zu Hand zu gehen, pflegen ebenso viele Mitglieder aus Gründen des Unvermögens
weniger Geld, darum aber nicht minder Sympathie und mündliche Thätigkeit
für die Propaganda beizusteuern. Austritte kommen alle Jahre vor, unter Er¬
klärungen, "endlich erkannte ich, wie man uns täuscht" und tgi., auch einzelne
Ausschließungen werden über "Störenfriede" verhängt. Das sind jedoch ver¬
schwindende Seltenheiten. Jedem abgehenden dürften Hunderte zutretende
Mitglieder entgegenstehen, Streitigkeiten innerhalb der Partei scheinen über-


Solche, die entweder kein Auge für öffentliche Angelegenheiten haben, oder
ihre eigene Angst davor zu beschwichtigen, sich selbst zu täuschen suchen, oder
endlich Männer, deren Stellung sie verpflichtete, den Kampf aufzunehmen,
die es aber aus irgend welchem Grunde nicht mögen, oder nicht vermögen.

Die Zeit sei gut, die Zeit sei schlecht, die Propaganda verfolgt ihren
Weg. Sie zeigt darin Aehnlichkeit mit dem Wirthshausbesuch. Gedeihen Han¬
del und Gewerbe, so hat auch die untere Klasse reichlichen Verdienst, kann
etwas draufgehen lassen und thut es; fließen die Einnahmen kärglich, so sucht
man beim Glase seine Noth zu vergessen und die Bierstuben füllen sich nicht
minder oder noch mehr. Auch die socialdemokratische Agitation versteht bei
günstigem und bei widrigem Winde vorwärts zu kommen und die Segel da¬
nach zu stellen. Ihr Weizen blüht mit der allgemeinen Geschäftslage, denn
alsdann sind „Hände" gesucht, können hohen Lohn verlangen, nöthigenfalls
striken oder Strikes unterstützen, ertrotzen da nicht selten zeitweilig Löhne,
die nach allen Seiten hin schädlich wirken, Gewerbszweige zu Grunde richten
und die Arbeiter entsittlichen, anspruchsvoller, unzufriedener machen. Stocken
hingegen Industrie und Handel, so wird die Lage der unteren Bevölkerungs¬
schichten so elend, daß es nicht Wunder nehmen kann, wenn die Aermsten in
ihrer Verzweiflung tollen Vorspiegelungen Glauben schenken. Treiben doch
Quacksalber und Marktschreier ihr Wesen nie erfolgreicher, als bei großen
Epidemien.

Geben wir uns also keiner Selbsttäuschung hin. Die socialdemokratische
Werbetrommel wirbelt mit Erfolg von Spanien und Italien bis Polen und
Rußland in den verschiedensten europäischen, auch in transatlantischen Län¬
dern, am lautesten und wirksamsten zur Zeit in Deutschland, noch wirksamer,
als im Vaterlande des Socialismus jenseits der Vogesen. Neue und immer
neue Schaaren strömen hinzu, werden in der geschicktesten Weise exercirt,
zum Theil enthusiasmirt, an Gehorsam, Vertrauen auf die Führer, an Muth
und Thatenlust fehlt's nicht.

Einen sicheren Maßstab für die unmoralische Stärke der Partei giebt
weder der Gesammtabsatz ihrer Organe, noch die Summe der Cassenbeiträge,
denn in verdienstlosen Zeiten pflegt stets eine Anzahl Abonnenten von den
Blättern abzuspringen, pflegen die einzelnen Nummern aber desto mehr von Hand
zu Hand zu gehen, pflegen ebenso viele Mitglieder aus Gründen des Unvermögens
weniger Geld, darum aber nicht minder Sympathie und mündliche Thätigkeit
für die Propaganda beizusteuern. Austritte kommen alle Jahre vor, unter Er¬
klärungen, „endlich erkannte ich, wie man uns täuscht" und tgi., auch einzelne
Ausschließungen werden über „Störenfriede" verhängt. Das sind jedoch ver¬
schwindende Seltenheiten. Jedem abgehenden dürften Hunderte zutretende
Mitglieder entgegenstehen, Streitigkeiten innerhalb der Partei scheinen über-


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[0099] Solche, die entweder kein Auge für öffentliche Angelegenheiten haben, oder ihre eigene Angst davor zu beschwichtigen, sich selbst zu täuschen suchen, oder endlich Männer, deren Stellung sie verpflichtete, den Kampf aufzunehmen, die es aber aus irgend welchem Grunde nicht mögen, oder nicht vermögen. Die Zeit sei gut, die Zeit sei schlecht, die Propaganda verfolgt ihren Weg. Sie zeigt darin Aehnlichkeit mit dem Wirthshausbesuch. Gedeihen Han¬ del und Gewerbe, so hat auch die untere Klasse reichlichen Verdienst, kann etwas draufgehen lassen und thut es; fließen die Einnahmen kärglich, so sucht man beim Glase seine Noth zu vergessen und die Bierstuben füllen sich nicht minder oder noch mehr. Auch die socialdemokratische Agitation versteht bei günstigem und bei widrigem Winde vorwärts zu kommen und die Segel da¬ nach zu stellen. Ihr Weizen blüht mit der allgemeinen Geschäftslage, denn alsdann sind „Hände" gesucht, können hohen Lohn verlangen, nöthigenfalls striken oder Strikes unterstützen, ertrotzen da nicht selten zeitweilig Löhne, die nach allen Seiten hin schädlich wirken, Gewerbszweige zu Grunde richten und die Arbeiter entsittlichen, anspruchsvoller, unzufriedener machen. Stocken hingegen Industrie und Handel, so wird die Lage der unteren Bevölkerungs¬ schichten so elend, daß es nicht Wunder nehmen kann, wenn die Aermsten in ihrer Verzweiflung tollen Vorspiegelungen Glauben schenken. Treiben doch Quacksalber und Marktschreier ihr Wesen nie erfolgreicher, als bei großen Epidemien. Geben wir uns also keiner Selbsttäuschung hin. Die socialdemokratische Werbetrommel wirbelt mit Erfolg von Spanien und Italien bis Polen und Rußland in den verschiedensten europäischen, auch in transatlantischen Län¬ dern, am lautesten und wirksamsten zur Zeit in Deutschland, noch wirksamer, als im Vaterlande des Socialismus jenseits der Vogesen. Neue und immer neue Schaaren strömen hinzu, werden in der geschicktesten Weise exercirt, zum Theil enthusiasmirt, an Gehorsam, Vertrauen auf die Führer, an Muth und Thatenlust fehlt's nicht. Einen sicheren Maßstab für die unmoralische Stärke der Partei giebt weder der Gesammtabsatz ihrer Organe, noch die Summe der Cassenbeiträge, denn in verdienstlosen Zeiten pflegt stets eine Anzahl Abonnenten von den Blättern abzuspringen, pflegen die einzelnen Nummern aber desto mehr von Hand zu Hand zu gehen, pflegen ebenso viele Mitglieder aus Gründen des Unvermögens weniger Geld, darum aber nicht minder Sympathie und mündliche Thätigkeit für die Propaganda beizusteuern. Austritte kommen alle Jahre vor, unter Er¬ klärungen, „endlich erkannte ich, wie man uns täuscht" und tgi., auch einzelne Ausschließungen werden über „Störenfriede" verhängt. Das sind jedoch ver¬ schwindende Seltenheiten. Jedem abgehenden dürften Hunderte zutretende Mitglieder entgegenstehen, Streitigkeiten innerhalb der Partei scheinen über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/99>, abgerufen am 27.11.2024.